Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
etwa fünf Minuten zu, während Brother immer wieder diese drei Titel nannte – die Van übrigens voller Bewunderung notierte –, dann rief er ein Taxi, stieg mit ihm ein, stieg mit ihm an der Gare de Lyon wieder aus, wartete mit ihm auf den nächsten Zug nach Chambéry und verließ den Bahnsteig erst, als der Zug mit Brother abgefahren war. Doch kaum hatte er den Bahnhof verlassen, hätte er sich auch schon ohrfeigen mögen. Brother war unberechenbar, möglicherweise erzählte er während der Fahrt allen möglichen Unsinn. Er hätte ihn besser irgendwo eingeschlossen, in der Rue de l’Agent-Bailly zum Beispiel, ihn dort seinen Rausch ausschlafen und dann die Liste schreiben lassen, um ihn danach nüchtern und gründlich geduscht nach Hause zu schicken.
Anis fand in Auteuil eine Dreizimmerwohnung im Erdgeschoss.
»Auteuil?«, fragte Van nach.
»Da hat man im Augenblick in Paris das beste Preis-Leistungs-Verhältnis«, erklärte Anis. »Möchtest du lieber nicht da wohnen?«
»Doch ja, natürlich«, protestierte Van hastig – jedem anderen hätte er geantwortet: Lieber sterben. »Ich bin zwar sonst nicht so wild auf das 16. Arrondissement, aber just diese Ecke mag ich, Auteuil. Rue d’Auteuil und Umgebung, das ist so gut wie, äh, ich weiß auch nicht, die Place de la Contrescarpe. Und von der Entfernung her ist es bis zur Buchhandlung auch nicht weiter als von meinem 9. Arrondissement aus. Ich werde zu Fuß an der Seine entlanggehen. Auteuil, abgemacht.«
Anis lachte schallend.
»April, April – Auteuil! Da hab ich dich schön reingelegt!«
Sie umarmte Van.
»Wie hast du das nur glauben können? Hältst du mich für derart bösartig?«
Sie hatte am Boulevard Saint-Marcel eine große Zweizimmerwohnung unter dem Dach gefunden.
»Von da aus kannst du auch zu Fuß an der Seine entlang zur Buchhandlung gehen.«
Am 25. August zog Van in die Wohnung ein. Er hatte das Atelier in der Rue de l’Agent-Bailly leichten Herzens gekündigt, er war froh, seine Wandgemälde nicht mehr sehen zu müssen, wie man manchmal froh ist, eine Landschaft zu verlassen, die einen an harte Zeiten erinnert. Anis hatte an allen Fenstern der neuen Wohnung mit Heftzwecken, die sie direkt in die Rahmen gedrückt hatte, goldgelbe Baumwollvoile-Bahnen befestigt. »Bei jedem Wetter Sonne«, sagte sie.
Mitten in einen der beiden Räume hatte sie ihren Futon gelegt, ihr Wunderbäumchen ans Fenster gestellt und in eine Ecke einen Korb voller Kleidungsstücke. »Wenn es dir recht ist, ist das mein Zimmer«, sagte sie und schloss damit auch gleich die spießige Variante aus, eins der Zimmer zum Wohnzimmer und das andere zum gemeinsamen Schlafzimmer zu machen.
Van sagte zu allem Ja. Er verkniff sich das zwei mal zwei Meter große Bett, von dem er träumte, und stellte in sein Zimmer nur eine Chaiselongue, die sich als schmales Bett benutzen ließ.
Er wäre beinah glücklich gewesen, wenn seine Sorge um Francesca nicht mit jedem Tag, der ohne irgendein Lebenszeichen von ihr verging, gewachsen wäre.
Am 29. erschien ein Buch von Ida Messmer, mitten in der Flut der mit den letzten Augustsendungen verschickten Nach-Sommer-Romane, doch so andersartig, dass die Kritiker, verblüfft und nach Worten suchend, ihm bereits besondere Aufmerksamkeit schenkten. Es war ein erotischer Roman, in dem es auch sehr um Bücher ging, denn die sich über zwei Nächte und den Tag dazwischen erstreckende Geschichte spielte ausschließlich in einer Bibliothek. Einer Bibliothek wie früher, im ersten Stock eines Adelssitzes auf dem Land, in der die Erzählerin einen Roman nach dem anderen, insgesamt zwölf, aufschlug und Passagen, die zur erzählten Handlung passten, laut vorlas. Und diese Romane – auf Vans Stirn schwoll eine Ader an, als er es bemerkte – gehörten alle zum Sortiment des Guten Romans . Was weiter nicht beunruhigend gewesen wäre, wenn es sich um so berühmte Werke wie de Sades Juliette oder Sacher-Masochs Venus im Pelz gehandelt hätte, doch es waren weit unbekanntere Werke wie Olympe und L’Ivoire .
Am 30. August kam Francesca zurück. In diesem Jahr fiel er auf einen Dienstag, sie kam kurz nach Mittag und so, als sei sie auch an den Tagen zuvor da gewesen. Ivan zeigte offen seine Freude.
»Sie werden doch wohl nicht gedacht haben, ich würde den ersten Geburtstag des Guten Romans nicht mit Ihnen verbringen«, sagte sie, und Van behielt für sich, dass er auf alles gefasst gewesen wäre.
»Ich habe für heute Abend noch nichts geplant«,
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