Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
drei von vier. Und jedes Mal behielt sie sich ihr Zimmer ausschließlich zur eigenen Nutzung vor und ging zu Van, um mit ihm zu spielen und dann, auf dem engen Diwan eng an ihn geschmiegt, einzuschlafen. Kaum eingeschlafen, nahm sie die Haltung zufrieden satter Babys ein: auf dem Rücken, das Gesicht von den Unterarmen umrahmt. Sodass Van, der sich, um nicht von der Diwankante zu fallen, mit einer Hand am Boden abstützte, nach ein oder zwei Stunden von seiner schmerzenden Schulter und der von Krämpfen durchzuckten Wade doch zum Rückzug ins Nachbarzimmer und auf Anis’ Futon genötigt wurde, der eigentlich nur ihm als Schlafstätte diente.
Er stand morgens früh auf, Anis nicht. Er wusste, dass sie beim Aufwachen gern allein war. Lautlos rollte er den Futon auf und ging dann zu Fuß zur Buchhandlung. Auch er legte auf dem Weg eine Zwischenstation ein, häufig ebenfalls an der Place Maubert, um in einem Café zu frühstücken und nach einer Antwort auf die Frage zu suchen, die er sich jeden Morgen von Neuem stellte – ob er je so glücklich gewesen sei.
»Was meinst du, wo Francesca im August war?«
»Keine Ahnung.«
»Ich frage mich, ob sie sich nicht im Sommer mit ihrem Mann klammheimlich an so versnobte Orte wie Gstaad oder Marbella begibt.«
»Gut möglich, dass sie sich in einem kleinen Kloster in Paris verkrochen hat, von dem sie mir mal erzählt hat. Warum fragst du sie nicht einfach?«
»Ich hab Angst, sie erzählt mir etwas von einer Pilgerreise an die Orte, die ihre Tochter liebte, oder so.«
Anfang Oktober geriet der Verlagskonzern Éditis in Wut. In Le Ponte erschien eine von den drei Firmenchefs unterzeichnete »freie Meinungsäußerung«. Sie argumentierten wie Buchhalter: » Der gute Roman hat neunzig Prozent der Romane, die auf den Listen für die Literaturpreise dieses Herbstes stehen, nicht im Angebot. Was soll das? Was rechtfertigt einen solchen Hass auf die zeitgenössische Kultur?«
»Die übertreiben«, bemerkte Ivan. »Zehn Prozent der Titel auf den Longlists, das ist enorm viel.«
»Wir sollten genauer sein«, gab Francesca zu bedenken. »Von den zehn Prozent sind zwei Drittel ausländische Romane.«
»Na und? Muss da etwa eine französische Quote eingehalten werden? Und jedes Jahr dieselbe?«
»Natürlich nicht. Und es kommt gar nicht infrage, dass wir auf diesen blödsinnigen Angriff reagieren. Aber ich verstehe, dass wir Zorn erregen.«
Damit hatte die Kontroverse ihr Bewenden.
»Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, sagte Van. »Entweder haben alle diesen ewig gleichen Prozess, den man uns macht, einfach satt, und es lässt sich niemand mehr mobilisieren. Oder man hat verstanden, worum es geht, dann hätten wir gewonnen. Man respektiert, dass wir tun, was wir für richtig halten.«
Van sah Heffner an.
»Wie man sich täuschen kann. Zwei Wochen später fand das erste der drei Attentate statt.«
43
E s war halb eins, Mittagszeit. Sie hatten zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten gebraucht, um die fünfzehnmonatige Geschichte des Guten Romans zu erzählen.
»Sie sprachen anfangs von drei Verbrechen«, erinnerte Heffner.
»Und genau darum geht es«, sagte Francesca heftig. »Um gemeine Verbrechen im juristischen Sinne, nicht um symbolische Schandtaten.«
»Erzählen Sie«, sagte Heffner, seine Stimme klang gleichmütig.
Francesca sah Van an.
»Drei Mitglieder unseres Auswahlkomitees wurden angegriffen«, begann Van. »Und zwar mit einer geradezu genialen Raffinesse, muss ich zugeben. Man hat sie den Tod ins Auge fassen lassen. Sie haben alle überlebt, aber nicht ohne Blessuren unterschiedlichster Art, würde ich sagen.
Von dem ersten Anschlag erfuhr ich erst deutlich später, vor einer Woche, am 20. November. Er wurde in der Nacht vom 7. auf den 8. November verübt und galt Paul Néant. Auch von den beiden anderen Angriffen erfuhr ich erst im Nachhinein. Einer fand am 15. statt, der andere verteilte sich auf mehrere Tage, sagen wir vom 19. bis zum 24. Ich erfuhr vorgestern und gestern davon. Vorgestern, am Samstag, durch einen Anruf von Ida, und gestern in einem persönlichen Gespräch mit dem dritten Opfer, Le Gall.«
»Ich darf Sie unterbrechen?«, fragte Heffner. »Die Mitglieder Ihres Komitees tragen Decknamen. Sagen Sie mir jetzt absichtlich die richtigen Namen?«
»Ja«, antwortete Ivan.
»Jetzt, wo es um echte Kriminalität geht, verliert jedes Geheimnis seine Bedeutung«, pflichtete Francesca ihm bei. »Wir werden Ihnen alles sagen, was wir über die drei
Weitere Kostenlose Bücher