Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
gerettete Romane an dem ihnen zustehenden Platz, Schnee von Orhan Pamuk im Regal »Türkei, 21. Jh.«, Das große Feuer von Shirley Hazzard unter »Australien, 21. Jh.«, In den Himmel stürzen von Goliarda Sapienza unter »Italien, 20. Jh.« – denn dieses Buch, das jetzt erst in französischer Übersetzung erschien, war bereits in den Jahren von 1967 bis 1976 geschrieben worden, aber auch in Italien relativ spät, 1998, erschienen. Unter »Frankreich, 21. Jh.« fanden sich Magnus von Sylvie Germain, Clara Stern von Éric Laurrent und Petit Traité sur l’immensité du monde von Sylvain Tesson.
L’Idee würdigte diese Besonderheit mit einer ganzen Seite: » Der gute Roman ist die einzige Buchhandlung Frankreichs, in der man keine Stapel des letzten Houellebecq sieht.« Der Ton des Artikels war ein bisschen zweideutig, halb »Alle Achtung!«, halb »Na, ein bisschen übertreiben die schon«.
Einige Kunden fragten nach dem letzten Houellebecq, aber eher wenige. Und zu allen sagte man freundlichst: »In welche Richtung Sie beim Verlassen unserer Buchhandlung auch gehen, nach spätestens hundert Metern werden Sie ihn finden. Aber wenn Sie das Buch bei uns kaufen möchten, bestellen wir es Ihnen natürlich gern.«
Mehrere der Stammkunden berichteten unabhängig voneinander, sie hätten das Gefühl, in diesem Herbst sei etwas anders geworden in den übrigen Buchhandlungen: nein, kein völlig neuer Wind, nicht einmal eine Tendenz, nein, kaum eine Brise, ein Hauch – eine neue, ein wenig energische Art, die immer mehr Buchhändler im Umgang mit ihren Kunden an den Tag legten, indem sie sagten: »Nein, nehmen Sie das nicht. Darf ich Ihnen etwas empfehlen?« und ihnen dann ein Buch in die Hände drückten, das von der Presse nicht oder kaum wahrgenommen worden war, für dessen Qualität sie selbst sich aber verbürgten.
Anis verbrachte jetzt jeden Abend einige Stunden in der Wohnung am Boulevard Saint-Marcel, die sie immer noch als »Deine Wohnung« bezeichnete. Als »Vans Wohnung«.
»Bis gleich bei dir, Van?«
»Van, ich warte dann bei dir auf dich.«
Sie verließ die Buchhandlung lange vor Van, der bis zum Ladenschluss blieb, denn er liebte den Kundenzustrom zwischen sechs und acht und danach, ab kurz nach acht, die ruhigen, intensiven Momente, die solche Tiefe erlangten, dass man um zehn, um endlich schließen zu können, die Runde machen und die letzten Leser, die über der Lektüre Raum und Zeit vergessen hatten – ganz so, wie es in kleinen wissenschaftlichen Bibliotheken üblich sein soll – einzeln und mit gesenkter Stimme bitten musste, sich doch bis zum nächsten Tag einen Happen zu essen und eine Mütze Schlaf zu gönnen.
Im September gab es noch sehr schöne Tage. Wie schon Francesca und Ivan hatte es sich nun auch Anis zur Gewohnheit gemacht, durch Paris zu wandern. Am späten Nachmittag legte sie zwischen der Buchhandlung und Vans Wohnung noch eine Zwischenstation an der Place Maubert ein, um etwas für das Abendessen zu kaufen, etwas feines Kaltes, wie sie sagte. Besondere Schinkensorten, Käse, Obst. Denn sie hatte entdeckt, dass man vom Treppenabsatz der Wohnung aus nur eine kleine Treppe bis unters Dach hinaufgehen und dann eine Tür, auf der »Durchgang verboten – Lebensgefahr« stand, öffnen musste, um unter freiem Himmel herauszukommen, auf einer kleinen, von einem eher symbolischen Geländer umzäunten Zinkterrasse. Man brauchte nur noch ein Stück Stoff oder eine Decke in den Korb fürs Abendessen zu legen, dann hatte man es wunderschön da oben im Halbdunkel und genoss ein Gefühl von absolutem Luxus, denn von diesem Mastkorb aus sah und hörte man kein Lebewesen außer den Vögeln, und Paris lag vor einem wie eine märchenhafte Filmkulisse.
Im Laufe der Tage ging Anis, ohne es zu merken, von »bei dir« zu »auf der Terrasse« über: »Treffen wir uns auf der Terrasse?« Wenn Van gegen halb elf Uhr abends dort ankam, war es schon dunkel. Sehr schnell machte Anis es sich zur Gewohnheit, noch einen zweiten Korb mit hinaufzunehmen, der Kissen und eine hausgemachte Beleuchtung – Kerzenstümpfe in kleinen Glasbehältern – enthielt. Außerdem hatte sie in einer Ecke einen großen Schirm zurückgelassen, sodass sie auch im Falle eines Regengusses in Ruhe Ende essen konnten.
Anfangs ging sie noch jeden zweiten Tag ganz früh morgens wieder nach Hause – doch es war klar, dass sie es gegen ihre eigenen Wünsche und nur aus Prinzip tat. Dann blieb sie an zwei von drei Tagen, dann an
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