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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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eine Zeit lang von Nahem beobachtet und festgestellt hatte, dass es eben nichts Vorgespieltes war, war es schon zu spät. Er war gefangen, er lag in Eisen. Verliebt bis in die Knochen und zwischen zwei Verabredungen das Opfer tödlicher Leidenschaft.
    Diese Leidenschaft war, milde ausgedrückt, keine gegenseitige. Paul versuchte, dem fröhlichen Kind begreiflich zu machen, was Liebe ist. Doch dieses Wort – das, wie er in der Folge sehen sollte, noch die verwildertsten Kinder jeglicher Hautfarbe verstehen und anwenden – blieb dem jungen Mädchen unverständlich. Mina – so hieß sie – ermaß nicht einmal, welche Vorteile sie aus Pauls Liebesraserei hätte ziehen können. Sie brach nur in Gelächter aus, wenn er ihr manchmal die Hände küsste.
    Er, der so viele Frauen hatte leiden lassen, weil er schnell merkte, dass er in ihnen nur ihre Jugend und ihre Weiblichkeit liebte – wenn auch nicht so schnell wie die betreffenden Frauen, die es wohl bemerkt hatten, aber an diesem weder schönen noch guten Kerl ganz im Gegenteil das liebten, was ihn von allen anderen unterschied –, litt nun unter dieser Schwarzhaarigen, die sich nicht einmal für seinen Vornamen interessierte, und darunter, nur als Lustobjekt benutzt worden zu sein.
    »Und als Profitmöglichkeit«, bemerkte Heffner.
    »Kaum«, sagte Néon.
    Das Mädchen vergaß das Geld, nahm es in die Hand und legte es wieder hin, es schien ihr ziemlich egal zu sein. So egal, dass Paul sich schon fragte, ob sie nicht nur die Prostituierte spielte, um ohne unnötiges Getue anzubandeln und schneller zum Ziel zu kommen.
    »Ich dachte immer, die Romamädchen seien besonders brav, würden jung verheiratet und blieben dann treu«, sagte Ivan, als er von Néons Geschichte erfuhr.
    »Das habe ich auch gelesen«, war Heffners lakonischer Kommentar.
    Paul war nicht sicher, dass er alles richtig verstanden hatte, aber Mina hatte angedeutet, sie sei mit fünfzehn verheiratet worden und habe sich nach zwei Monaten des Zusammenlebens aus dem Staub gemacht. Sie sprach sehr wenig über sich. Anscheinend lebte sie bei einer Familie, die aber nicht ihre Familie und eigentlich überhaupt keine Familie im üblichen Sinn war. Halb sesshaft gewordene Leute, Mitglieder eines Clans, der in diesem Armenviertel von Chambéry mehr oder weniger Wurzeln schlug.
    Mehr oder weniger: Einige entschlossen sich zwar dazu, sie ließen sich zwischen vier Wände sperren und schickten ihre Kinder zur Schule, aber andere konnten sich mit diesem Leben nicht anfreunden, sie blieben einige Wochen in Chambéry, dann verschwanden sie und kamen wieder, ohne jemandem Bescheid zu geben, und wenn sie da waren, weigerten sie sich auf jeden Fall, anderswo als bei sich zu Hause zu wohnen, sprich in ihrem Wohnwagen auf einem großen Parkplatz in der Nähe der Sozialwohnungen.
    Eines Tages verschwand das junge Mädchen. Néon suchte nach ihr und erfuhr, ihre Bande sei abgehauen, weiter nichts. Er wartete und litt zunehmend. Er hatte Mina nicht wiedergesehen. Er wartete seit elf Jahren.
    Anfangs fürchtete er, verrückt zu werden. Jeden Tag ging er zu dem Parkplatz, auf dem sie, wie er wusste, zuletzt gewesen war und wohin sie, wie er zuversichtlich hoffte, zurückkehren würde. Monatelang befragte er jeden Roma, den er traf, doch vergebens. Wie er später erfuhr, hatten sie ihm bereits den Spitznamen »Mina« gegeben.
    Auch wenn er sich selbst sagte, dass er damit nur klarmachte, welchen Ort die junge Dame, sollte sie vor ihm geflohen sein, auf jeden Fall meiden musste, um ihm nicht zu begegnen, es half alles nichts. Nach und nach gab er es auf, jeden Tag durch dieses Viertel zu laufen, aber er kam nie wirklich davon los. Als eine Ehrenamtliche der Vierte-Welt-Organisation, die dort ständige Mitarbeiter hatte, ihn fragte, ob er mitmachen wolle, sagte er sofort zu.
    Elf Jahre waren vergangen. Paul hoffte zwar nicht mehr auf ein Wiedersehen mit Mina, doch sie fehlte ihm immer noch. Er schrieb praktisch nicht mehr – und er glaubte auch nicht, »es« werde wiederkommen. Er war so weit, dass er die Geliebte, die ihm fehlte, und die fehlende Inspiration beim selben Namen nannte: Mina.
    Hoffte nicht mehr – doch, das schon. Natürlich. Wahrscheinlich steckte hinter seiner Tätigkeit als Straßenbibliothekar der Wunsch, regelmäßig mit den Kindern zusammenzutreffen, von denen viele aus dem Romalager kamen. Er sagte sich recht bald, dass Mina vielleicht ein Kind von ihm bekommen habe. Bald schon war er zu der festen

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