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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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Überzeugung gelangt – und dann auch noch zu der, deshalb sei sie abgehauen, um das Kind ganz für sich zu haben. Ungeachtet der verfliegenden Zeit, in einer Art Wunsch nach Ewigkeit – denn die Ewigkeit ist nicht die fortwährende Zeit, sondern das Gegenteil, ausgesetzte Zeit, Nicht-Zeit – hinderte er die Glut daran zu verlöschen, indem er kleinen Roma-Kindern Geschichten vorlas. So vermittelte er diesem unbekannten Sohn das Schönste, das er kannte, und das Beste, das er zu geben hatte, die Leidenschaft für Wörter und Sätze.
    Als Heffner diese Beichte in dem kleinen, zugleich zu grell und zu schlecht beleuchteten Krankenhauszimmer in Lyon empfing, da gab er – wie er uns später erzählte – für einen Moment die in seiner Position gebotene Distanz auf, sah Néon an, den ramponierten Körper, die gelbliche Haut, die Tränensäcke, und sagte sich: Wie jung er ist.
    Le Gall hatte seine Angreifer vier Mal gesehen, er konnte sich an sie erinnern. Aber was er zu sagen hatte, fand Heffner nicht sonderlich hilfreich. Die beiden Typen hätten in ziemlich banalen Kleidungsstücken gesteckt, Parkas oder Lammfelljacken, beige seien sie gewesen, oder braun oder khakifarben. Die Hosen mussten Jeans gewesen sein, sonst wäre es Le Gall aufgefallen, oder so etwas wie Jeans. Sie trugen schwere Schuhe und Kopfbedeckungen – Wollmützen, es sei denn, sie hätten die Kapuzen übergezogen gehabt, eine eng zusammengeschnürte Kapuze sieht einer Wollmütze ziemlich ähnlich –, keine Handschuhe – die Hände in den Taschen –, keine Brille. Doch an diesem Punkt misstraute sich Armel doch ein wenig, es sei ihm schon passiert, dass er geschworen habe, eine Person, der er noch zwei Tage zuvor begegnet sei, trage keine Brille, dabei habe sie eben doch eine getragen – als würden Brillen, obwohl sie von denjenigen, die sie verschrieben bekämen, als absolut entstellend betrachtet würden – von Dritten gar nicht richtig wahrgenommen oder zumindest nicht als wesentliches Merkmal im Gedächtnis behalten.
    »Mit der Nase ist es genauso«, sagte Le Gall. »Mitten im Gesicht sitzt sie natürlich meistens, aber ob man sie dann auch so genau anschaut, dass man sie beschreiben könnte …«
    Heffner wusste schon lange, dass man nicht viel von dem sieht, was man vor Augen hat. Und er bedauerte es umso mehr, als er die Aufgabe hatte, aus diesen verschwommenen Erinnerungen, aus diesen impressionistischen Gemälden die eine genaue Beobachtung herauszufischen, die eine Identifikation, einen Vergleich, eine Schlussfolgerung zuließ, die es endlich – als würde aus einem zwischen allen möglichen Kieselsteinen herumliegenden Kapitellstückchen der ganze Tempel rekonstruiert – ermöglichte, das Motiv und den Urheber des Verbrechens zu finden.
    Er ist konfus, stellte Heffner fest, während er Le Gall an der Bar des Grand Gallo , wo an diesem Dezembermorgen eine besondere Tristesse herrschte, zuhörte. Sein Gedächtnis wird von etwas verdunkelt. Irgendetwas steht dazwischen.
    Armel stockte plötzlich.
    »Ehrlich gesagt …«
    Na los doch, flehte Heffner innerlich.
    »… ist es ein wenig hart für mich, das alles zu erzählen. Oder vielmehr noch einmal zu durchleben.«
    Le Gall fand es beschämend, doch er musste zugeben, dass er sich nicht recht von seinem Abenteuer erholen konnte. Zwar war er seither mehrmals an die betreffende Stelle oben auf dem Steilfelsen zurückgekehrt und hatte dort keine Galgengesichter mehr gesehen, er hatte sich auch fest vorgenommen, seinen gewohnten Morgenspaziergang am Meer wieder aufzunehmen, doch er schaffte es nicht.
    Das Schlimmste – und es hing damit zusammen – war, dass er sich auch nicht mehr an sein aktuelles Buch setzen konnte. Er war auf der Seite stecken geblieben, an der er am Tag des großen Muffensausens, wie er es nannte, gearbeitet hatte. Seither war kaum eine Woche vergangen, doch eine Woche ohne Schreiben war für Le Gall eigentlich nicht mehr denkbar. Er kannte keine Blockaden. Überall, in Biografien und Memoiren, hatte er gelesen, wie höllisch dergleichen für einen Autor sein konnte, aber er kannte es nicht aus eigener Erfahrung. Und nun, am Anfang eines neuen Romans, den er noch nicht richtig im Griff hatte, traf es sich besonders schlecht. Er kämpfte wacker, setzte sich in aller Frühe an den Schreibtisch, doch es kam nichts. Kein Wort, kein Satz, kein Gedanke. Nur ein Horror vor seinem Thema, dieser Arbeit, ganz allgemein dem Schreibvorhaben, und dieser Horror siegte dann

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