Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
binnen Kurzem über seine Willenskraft.
»Ich büße für meine Feigheit«, sagte er. »Wissen Sie, ganz gleich, um welches Thema es geht und für wie fiktiv man es immer halten mag, Schreiben ist bestenfalls eine Gegenüberstellung mit sich selbst und schlimmstenfalls ein Kampf gegen sich selbst, immer aber das Ermessen der eigenen Grenzen. Und dieses Mal sehe ich nur diese Grenzen. Ich schäme mich für den Menschen, dem ich gegenüberstehe. – Im Augenblick halte ich mich mit Malen aufrecht. Eine Nussschale auf dem Meer. Selbstbetrug. Nur gut, dass mir das Malen hilft. Fast hätte ich Maïté alles gesagt.«
Heffner versuchte, ihn von weiteren Willensanstrengungen abzubringen.
»Reisen Sie ein wenig, ändern Sie Ihren Stundenplan, gönnen Sie sich einen Tapetenwechsel, kurzum: Machen Sie das, was man als Ferien bezeichnet.«
Doch die wenigen Male, die Ivan, der von diesen Problemen ja offiziell nichts wusste, Armel anrief, nahm dieser sofort ab und redete und redete über Gott und die Welt, nur nicht über das, was sein Leben vergiftete. Und Ivan wagte es nicht, das Messer noch tiefer in die Wunde zu stoßen.
Heffner besuchte Anne-Marie. Sie war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, und er war der Erste, der ihre Adresse erfuhr. Ich glaube, er war es auch – oder vielleicht auch nicht, ist ja auch unwichtig –, dem Anne-Marie erzählte, wie »es« eines Abends zu ihr zurückgekehrt war.
Sie war noch im Krankenhaus, und es war ein besonderer Abend, weil Francesca sie gerade besucht hatte. In Anne-Maries Ohren klangen noch Francescas Worte, die, sagte sie, mehr zu ihrer Heilung beigetragen hatten als die Kunst der Ärzte.
Sie hatte weniger Schmerzen. Zum ersten Mal konnte sie wieder ohne das Gefühl atmen, dass ihr die gebrochenen Rippen in die Lunge stachen. Sie war allein. Sie sah aus dem Fenster. Der Sonnenuntergang ließ den Himmel in Gelb und einem bläulichen Violett erstrahlen und weckte in ihr den Wunsch, Rosenblütenblätter zu kauen.
Sie schloss die Augen. Sie sah A. – den Mann, den Ida in ihren Büchern A. nannte –, er lächelte ihr zu. Sie ging zu ihm und küsste ihn auf die Grube hinter dem Ohr. Sie spürte die Wärme seiner Haut, seinen Geruch.
Sie lachte, als sie davon erzählte, und das war wohl hübsch anzusehen. Sie knipste die Nachttischlampe an und drückte auf den Klingelknopf neben dem Bett. Als die Krankenschwester kam, sagte sie: »Könnten Sie mir wohl Papier und Stift beschaffen? Ich kann mich jetzt aufsetzen. Und ich möchte etwas aufschreiben.«
46
H effner suchte Doultremont in dessen Büro am Quai Citroën auf. Er sprach mit dem Putzmann und Philologen Yassin al-Hillah. Er konzentrierte sich vor allem, sagte er jedenfalls, auf die elektronischen Spuren, die man heutzutage bei jedem Anruf und jeder Kommunikation im Internet hinterlässt. Der gute Roman hatte Tausende von Zuschriften erhalten, und es gab eigentlich überall im Netz Mitteilungen, die ihn betrafen. Er nahm alle Computer der Buchhandlung nacheinander mit und behielt sie zwei oder drei Tage. Francesca gab ihm von sich aus ihren persönlichen.
Man hörte ihre Stimme selten in diesen ersten Dezembertagen, sie sprach kaum. Doch manchmal sah man sie stumm die Lippen bewegen. Zu Van sagte sie, sie könne niemanden mehr die Buchhandlung betreten sehen, ohne ihn gleich zu verdächtigen. Und sie sagte ihm auch, dass sie am liebsten ihre ganze Zeit im Guten Roman verbringen würde, sich aber zurückhalte.
Dass die Ermittlungen sich so in die Länge zogen, war ihr unbegreiflich, doch sie wagte Heffner nicht zu fragen. Die sonst so lebhafte, zupackende Francesca wirkte antriebslos. Ich glaube, sie hatte ganz einfach Angst. Wovor? Vor allem, nehme ich an, sie hatte es ja auch selbst gesagt.
»Warum fahren Sie nicht für ein paar Tage nach Méribel?«, schlug Van ihr vor. »Es hat geschneit, es ist bestimmt schön dort oben.«
Sie lachte seltsam auf.
»Das Chalet ist verkauft«, sagte sie. »Ich habe es im August leer geräumt.«
Van sah sie verständnislos an.
»Bankiers können ziemlich lästig werden. Eine Zahlung war fällig geworden, ich musste flüssiges Geld auftreiben.«
Sie legte den Finger an die Lippen, um Van an irgendwelchen Kommentaren zu hindern.
»Es ist nicht schlimm«, sagte sie. »Ich fuhr ohnehin nur deshalb noch nach Méribel, weil Violette diesen Ort mochte und dort oft in Ferien war. Ich konnte mich nicht davon lösen. Und jetzt ist es getan. Und mir geht’s nicht
Weitere Kostenlose Bücher