Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
bewegt.«
Er schwieg kurz.
»Ich könnte Ihnen viel mehr sagen. Für heute will ich es dabei belassen. Ich habe eine Theorie, was die Art und Weise der Mobilmachung gegen Ihre Buchhandlung angeht. Mehr noch, Vermutungen, Vermutungen, die zu einer Beweiskette werden könnten. Ich werde ihnen weiter nachgehen.«
»Haben Sie Leute abhören können?«
Heffner lächelte.
»O nein, das macht man nur bei Strafrechtsangelegenheiten.«
»Ist das keine Strafsache?«
»Ich habe alle Mühe, den Richter davon zu überzeugen, das will ich Ihnen nicht verhehlen. Und auch einige in meinem Team. Das Polizeimilieu ist ziemlich konventionell. Deshalb sind wohl auch so viele Kriminalromane konventionell. Lieber arbeite ich allein.«
Francesca war erstaunt. Voller Bewunderung, aber vor allem erstaunt, sagte sie Van.
»Er bewegt sich wie ein Fisch im Wasser in der Verlagswelt, scheint mir. Und er sieht sich nicht etwa in den eleganten Büroräumen in der Beletage schöner kleiner Altbauten in Saint-Germain-des-Prés um, sondern in ungelüfteten Kellern und Abstellräumen, die man eigentlich nie zu sehen bekommt, hinter den Kulissen gewissermaßen.«
»Nun ja, es gibt undurchsichtigere Milieus, es geht ja nicht um die Mafia. Heffner kennt diese kleine Welt.«
»Er kennt sie seit einem Monat …«
»Aber nein. Hat er es Ihnen denn nicht gesagt?«
Nach seinen beiden literaturwissenschaftlichen Vorbereitungsjahren hatte Heffner einige Zeit geschwankt, welchen Weg er einschlagen sollte. Schließlich hatte er sich für Neuere Literaturwissenschaft an der Sorbonne eingeschrieben. Und dank der freundschaftlichen Unterstützung eines Professors eine Stelle bei Julliard bekommen. Bevor er sich für die Polizeioffiziersschule entschied, hatte er die Verlagsbranche also von innen kennengelernt, als Mädchen für alles.
»Wahrscheinlich hat er geschrieben«, meinte Francesca. »Meinen Sie nicht?«
»Er hat nichts davon gesagt, aber ich könnte darauf wetten. Ob er es aufgegeben hat? Da bin ich mir nicht so sicher. Wissen Sie noch, das eine Mal, als er uns von seiner Liebe zur Literatur und von seiner Entscheidung für die Tat erzählte, sagte er auch, dass ihm diese Entscheidung schon bald wenig fundiert vorgekommen sei.«
51
D ie Januaroffensive der Verlage mitsamt ihren Neuerscheinungen war da, fünfhundert Titel, hundert weniger als im September, aber immerhin. Jean-René Lancre hatte Paris Mitte Dezember verlassen, für »sechs Wochen oder länger, im Falle des vollkommenen Glücks«. Er war nach La Réunion abgereist, im Kielwasser der »Jugend«, wie er es vage nannte, denn auf diesem Gebiet ließ er sich eingestandenermaßen von seinem wählerischen Geschmack und seiner Freude an der Abwechslung leiten. Zudem wollte er nicht, dass die eine oder andere Partei in Paris mit einem stolzen »Er ist zu uns zurückgekehrt« prahlen konnte. Kurz vor seiner Abreise hatte er in der Post in der Rue Danton ein Postfach angemietet, den Verlagen diese neue Adresse mitgeteilt und eine Vollmacht für Van hinterlegt. Dieser ging seit Anfang Januar jeden Morgen zur Post und kam dann mit einem Sack voller Bücher über der Schulter in die Buchhandlung.
Francesca, Van, Oscar, Anis – eigentlich alle liebten Ravel von Echenoz. Van riss sich in Stücke, um Les trois vies de Lucie von Iegor Gran an die Leser zu bringen. »Mögen Sie Sempé?«, fragte er. »Sie mögen diese ganz beiläufige Virtuosität? Dann nehmen Sie die Vies de Lucie .«
Anis focht für den härtesten Roman der fünfhundert Titel, Perez-Revertes Der Schlachtenmaler . »Ein wichtiges Thema«, sagte sie und – mit einem Seitenblick in Richtung Van, der entgegengesetzter Auffassung war: »Es kommt schließlich nicht nur auf die Form an.«
Van war verblüfft darüber, dass sie jetzt so umkompliziert war, nachdem sie ihn vorher ständig aus der Fassung gebracht hatte. Verblüfft, nicht enttäuscht. Er zögerte eine Weile, aber dann sagte er – am 11. Januar: »Weißt du, dass es nun bald drei Monate her sein wird, dass du zum letzten Mal in der Rue du Bol-en-Bois geschlafen hast?«
»Es war drei Monate her, vorgestern«, korrigierte ihn Anis.
Eines Tages, träumte Van, werde ich erfahren, dass sie ihr Studentenzimmer längst gekündigt hat. Aber er wagte sie nicht danach zu fragen.
Francesca machte ihm Sorgen. Sie schien die ganze Zeit zu frösteln. Selbst in geschlossenen Räumen legte sie nichts oder fast nichts an Mänteln und Jacken ab. Es war allerdings auch ein besonders
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