Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
eisiger Winter.
Als Van eines Tages mit ihr in dem Bistro in der Rue Mabillon, in das sie sehr häufig ging, zu Mittag aß, bemerkte er, dass sie nichts zu sich nahm.
»Haben Sie keinen Hunger?«, fragte er.
Sie lächelte ihr herzzerreißend strahlendes Lächeln.
»Wenn Sie wüssten, wie sehr mich das Essen ermüdet«, sagte sie.
Und wie jedes Mal, wenn die Frage »Ist etwas nicht in Ordnung, Francesca?« drohte, lenkte sie ab.
»Ich frage mich«, begann sie, »wie lange Heffner brauchen wird, um herauszufinden, dass Henri im Verwaltungsrat der EIO sitzt.«
»EIO?«, wiederholte Van verständnislos.
»Die Nummer eins unter den französischen Telefonanbietern. Die Hälfte aller Anschlüsse, glaube ich.«
»Wenn diese Gesellschaft so groß ist, wie Sie sagen, wird Heffner wissen, wer im Verwaltungsrat sitzt.«
Francesca hatte den Kopf gesenkt. Ivan sah, wie sich eine Träne von ihren Wimpern löste und auf ihren Teller fiel.
»Sie lieben ihn«, platzte es aus ihm heraus.
»Es ist kompliziert«, sagte Francesca ohne jede Empörung, sie sah weder auf noch bat sie Ivan, ihr zu sagen, was er meinte. »Der heutige Henri ist zu hart, zu sehr darauf erpicht, mich zu zerstören. Es wäre gelogen, wenn ich sagte, dass ich ihn liebte. Es wäre genauso gelogen, wenn ich behaupten würde, ihn zu verabscheuen. Ich möchte ihn lieben können.«
Sie hob den Kopf, doch sie blickte über Ivans Schulter hinweg.
»Er war so … anders, als ich ihn kennenlernte. Das heißt, so sehr auch nicht. Natürlich war er derselbe. Alles ist immer schon da.«
Jetzt sah sie Ivan mit ihren tränenglänzenden Augen direkt an.
»Ich drücke mich ungeschickt aus. Sagen wir, ein Teil meiner selbst lebt im Licht des Henri aus den Anfängen.«
»Weiß der heutige Henri es?«
»Er weiß es, und er will es nicht haben. Das ist es ja, was er unbedingt zerstören will. Und ich kämpfe darum, dass diese kleine Flamme nicht unter den Steinen erlischt, dass mir wenigstens dies bleibt. Ich fürchte den Tag, an dem ich einsehen muss, dass ich verloren habe.«
Sie zuckte zusammen.
»Mein Gott, wie arm das ist.«
»Ich finde es überhaupt nicht arm«, stammelte Ivan, wütend auf sich, weil ihm nichts Besseres einfiel.
Denn er dachte nicht, was er sagte. Dieses »arm« verfolgte ihn noch lange. »Sie hatte es so genau getroffen«, sagte er später zu mir. »Das letzte Wort, mit dem man sie beschrieben hätte, und doch das passendste, wenn man es ein bisschen weiter auslegt. Francesca war sehr arm.«
52
A m Montag, dem 23. Januar, wurde morgens an der Ecke Rue Dupuytren, Rue Monsieur-le-Prince auf der dem Guten Roman gegenüberliegenden Seite ein Geschäft eröffnet. Schon seit Wochen waren hinter einer dicken graugrünen Plane, die das Erdgeschoss verdeckte, Arbeiten im Gange gewesen. Am Montag war die Plane verschwunden. Van kam vom anderen Ende der Rue Dupuytren her, aus der Richtung des Boulevard Saint-Germain. Er bemerkte nicht einmal, dass in dem Gebäude nicht mehr gearbeitet wurde.
Oscar war es, der nach ihm ankam und ihn wieder auf die Straße zog und zu dem Eckgebäude führte. Die renovierten Geschäftsräume beherbergten eine Buchhandlung, Die Freude am Roman . Sie war, soweit man es von außen beurteilen konnte, hell, schön und ziemlich klassisch eingerichtet. Und jeweils in der Mitte der beiden Schaufenster prangte ein großes rechteckiges Schild mit roter Schrift:
LESEN SIE, WAS IHNEN FREUDE MACHT,
UND NICHT, WAS GUT SEIN SOLL.
Ivan bemerkte, dass er und Oscar aus dem Geschäft heraus beobachtet wurden.
»Gehen wir wieder«, sagte er und löste sich von dem Anblick.
Oscar folgte ihm zwar, meinte aber, ihn falsch verstanden zu haben.
»Ich dachte, du hättest gesagt: ›Gehen wir rein in diese Buchhandlung. Schauen wir sie uns an‹.«
»Dann hätte ich nicht ›Gehen wir wieder‹ gesagt.« Van war aufgebracht.
»Stimmt. Entschuldige. Das war ein Fehler. Möchtest du nicht, dass ich mal nachsehe, wie’s da aussieht?«
»Warte«, sagte Van.
Er rief Francesca an.
»Wenn Sie heute Morgen zur Buchhandlung kommen, nehmen Sie den Weg über die Rue Monsieur-le-Prince. An der Ecke, auf der uns gegenüberliegenden Seite, werden Sie etwas sehen: Wir haben einen Konkurrenten.«
»Was für einen?«, fragte Francesca misstrauisch.
»Einen geschickten, zumindest auf den ersten Blick. Ich war nicht drin.«
»Warum nicht?«
»Ich wollte erst Ihre Meinung hören.«
Wenn sie nicht gleich an diesem Montag hineingehen würden,
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