Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
würde es ihnen später noch viel schwerer fallen, meinte Francesca. Sie war sehr bald nach dem Telefonat in der Buchhandlung eingetroffen. Aber auch sie hatte es nicht über sich gebracht, Die Freude am Roman zu betreten, und sie bereute es. Rings um die Buchhandlung hatte sie einigen Betrieb bemerkt, viele Leute gingen in der Buchhandlung ein und aus, es wirkte fast ein wenig demonstrativ.
Van hatte immer noch Hemmungen. Er konnte sich nicht vorstellen, allein dorthin zu gehen, das Verstummen bei seinem Eintreten auszuhalten, erkannt und womöglich mit seinem Namen begrüßt zu werden. Und Arm in Arm mit Francesca als Botschafter aufzutreten, konnte er sich noch weniger vorstellen.
In diesem Augenblick kam Armand Delvaux in die Buchhandlung. »Seit gestern Abend langweile ich mich. Ich hab nichts mehr zu lesen. Natürlich hätte ich etwas wiederlesen können, aber, wie soll ich sagen, ich befand mich in einem Zustand der Unsicherheit, wie ich ihn manchmal sonntags erleide, wenn Der gute Roman geschlossen hat. Deshalb bin ich ins Kino gegangen.«
Er willigte sofort ein, als Kundschafter zur Freude zu gehen. Nach einer halben Stunde kam er zurück.
»Genial«, sagte er. »Ganz offensichtlich haben sie sich vom Guten Roman inspirieren lassen, was die Gestaltung der Räume und die Atmosphäre angeht. Viel Raum, schöne Materialien, ein gewisser Luxus. Auch sie verkaufen nur Romane, sowohl französische als auch ausländische. Aber sie haben sich nicht die Mühe einer Auswahl gemacht. Sie haben von allem etwas, vor allem Neuerscheinungen, womöglich sogar alle Neuerscheinungen. Stapelweise Sachen, die sich gut verkaufen, zum Beispiel … Na, Sie kennen diese Titel ja besser als ich.«
»Das ist unlauterer Wettbewerb«, schäumte Oscar.
Delvaux war sich da nicht so sicher.
»Jedenfalls nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes. Allenfalls, was den Namen angeht, ja, wahrscheinlich könnten wir ihnen Nachahmung nachweisen.«
Doch Francesca hatte nicht vor, sich zu wehren, weder juristisch noch auf sonstige Weise.
»Übrigens«, sie sah Delvaux an, »kann man hier, wenn ich Sie richtig verstanden habe, nicht von Konkurrenz sprechen. Wir haben nichts zu befürchten.«
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Van abrupt. »Nur fünf Minuten.«
Er kam mit Zeitungen beladen zurück. Francesca verstand sofort. In jeder der Morgenzeitungen war eine Viertelseite Reklame: unterlegt mit einer Reproduktion von Jean-Jacques Henners Lesender – einer Rothaarigen, die in einem gelblichen Licht mit aufgestütztem Ellbogen auf dem Bauch liegt und liest, nackt und friedlich und völlig in ihr Buch vertieft – wenige Zeilen, Die Freude am Roman , Adresse, Öffnungszeiten und, bis auf die letzten Wörter, derselbe Slogan wie in den beiden Schaufenstern:
LESEN SIE, WAS IHNEN FREUDE MACHT,
UND NICHT, WAS MAN GELESEN HABEN MUSS.
Gegen eins kam, wie fast jeden Tag, Roselin Folco in die Buchhandlung. Er hatte aus eigenem Antrieb eine Dreiviertelstunde lang in der Freude am Roman herumgeschnüffelt. Er war völlig ruhig.
»Diese Plagiatoren werden die Illusion nicht lange aufrechterhalten können«, sagte er. »Ihr Geschäft hat das Aussehen von Qualität, aber weder deren Geruch noch deren Geschmack noch deren Kraft noch deren Finesse. Es ist eine erzgewöhnliche Buchhandlung.«
»Mal abgesehen von dem Umstand, dass dort nur Romane verkauft werden«, wandte Van ein.
»Ja, aber auch so ziemlich alles, was notfalls als Roman durchgehen kann.«
Nein, für Folco hatte das neue Geschäft nur einen Trumpf: »Sie haben viel mehr Bücher vorrätig als wir. Drei oder vier Mal mehr, grob geschätzt.«
»Wir haben hier inzwischen mehr als achttausend«, sagte Van.
»Die haben bestimmt so um die dreißigtausend.«
Und auf den Tag genau zwei Wochen später, am Montag, dem 6. Februar, wurde auf derselben Straßenseite, in der Rue Dupuytren Nummer 7, eine weitere Buchhandlung eröffnet. Sie hieß Der exzellente Roman . Dieses Mal hatte man auf den Überraschungseffekt gesetzt. Noch zwei Tage zuvor hatte sich in dem Ladenlokal ein Friseursalon befunden. Zwischen Samstagabend und Montagmorgen hatte man die gesamte Inneneinrichtung ausgetauscht, und anstelle der Waschbecken und Trockenhauben standen jetzt überall Bücherregale und -tische.
Diese Buchhandlung war nicht groß. Sie war gut geplant: helles Holz, edle Materialien, sehr geschickte Beleuchtung – es sah fast so aus, als sei hier derselbe Innenarchitekt tätig gewesen wie in der
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