Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
eine dritte Sorte derselben Soße. Das geräumige Ladenlokal war in vier Abteilungen gegliedert, wobei man auf äußerste Durchlässigkeit von einer zur anderen geachtet hatte. Die erste Abteilung war den guten Romanen vorbehalten, die zweite, gleich daneben, allen übrigen. Man musste erst ein wenig Zeit dort verbracht haben, um das System zu verstehen. Es gab keine Abgrenzungen, nicht einmal so symbolische wie Gänge, und keine Hinweisschilder. Es sei nur so, erklärten die Zwillinge und der gute Delvaux, die das Terrain gleich am ersten Tag sondiert hatten, dass man sich an einer Stelle für alles interessiere – als wäre man im Guten Roman – und an einer anderen, nur ein Stückchen weiter, für gar nichts mehr.
In der dritten Abteilung stand Essayistisches, und in der vierten alles Übrige, Comics, Handbücher, Lexika und Kunstbände.
Unnötig zu erwähnen, dass Innenarchitektur und Dekoration der neuen Buchhandlung sehr beeindruckend waren. Die Regale und die Vertäfelungen waren rot lackiert, in einem zugleich aufregenden und sanften Rot. In der Mitte befand sich ein Kreis aus fünf Sofas. In glasierten Töpfen standen große Bonsais. Und schon am Montag, dem 20., war es sehr voll.
Francesca erfuhr noch am selben Tag von mehreren Bekannten, die alle glaubten, da werde eine Dependance des Guten Romans eröffnet, dass massenweise Einladungskarten verschickt worden waren, lackrote Karten mit der Ankündigung: »Die Straße der wirklich guten Bücher wird verlängert. Jetzt gibt es auch eine Luxus-Buchhandlung. Dieser Luxus ist jedermann zugänglich.«
»Gehirnwäsche, Vernebelungstaktik, ein fauler Trick!« Oscar war außer sich vor Wut. »Luxus – wie ich dieses Wort hasse. In Luxuspapier kann man alles Mögliche wickeln. Konsumschafe bitte hier entlang! Der neue Luxus: Wir machen keinen Unterschied mehr zwischen Schund und Qualität.«
Die Presse war nicht so heikel. Sie klatschte brav Beifall. Und überall wurde der Text der Einladungskarte aufgegriffen: Die Straße der guten Bücher wird verlängert – bereichert, erlebt die Eröffnung einer weiteren exquisiten Buchhandlung.
Am Samstag und Sonntag darauf herrschte auf der Rue Dupuytren ungeheuer viel Leben. Es hatte geschneit. Man fühlte sich wie in der Vorweihnachtszeit. Die Leute machten einen Rundgang durch die Buchhandlungen. Viele betraten den Guten Roman , oft zum ersten Mal.
Armand Delvaux machte sich Sorgen.
»Der eigentliche Trumpf dieser Buchhandlung Für jeden Geschmack ist die Geräumigkeit. Die Freude am Roman mag dreißigtausend Bücher vorrätig haben, bei Jedem Geschmack sind es mindestens doppelt so viele. Man geht zum Schauen in diese Großbuchhandlungen. Man hat von diesem oder jenem Buch gehört und möchte es zwar nicht kaufen, aber darin blättern. Diese Lust ist vielleicht deshalb so groß, weil man es eben nicht lesen will. Es gibt eine Lust am schlechten Buch, eine Art hastiger Lektüre, die einer Fressattacke ähnelt. Wer hätte so etwas nie erlebt? Das bedeutet aber natürlich nicht, dass man das Buch kaufen wird.«
»Aber ja doch«, entgegnete Van. »Man wird nicht in der einen Buchhandlung stöbern und dann in der anderen kaufen. Und schon gar nicht, wenn man in ein und derselben alles findet, vom Besten bis zum Schlechtesten. Uns fehlt diese Köderware.«
Im Guten Roman herrschte von morgens bis abends ununterbrochenes Kommen und Gehen. Francesca tauchte auf und verschwand wieder, in beigen oder weißen Wollgewändern, lächelnd und mit verlorenem Blick. Entweder wollte sie nicht vorhandene Stärke demonstrieren oder sich nicht beeindrucken lassen – oder aber sie hatte die Veränderung nicht bemerkt. »Das gefällt mir nicht«, sagte Van.
Ihm gefielen auch all die neuen Gesichter im Guten Roman nicht. Er erkannte sie nicht. Ein völlig irrationaler Einwand, wie er selbst sagte, so etwas sieht man nicht auf den ersten Blick, und doch, er erkannte sie nicht als Mitverschworene, als echte Leser, als Freunde.
Ich redete ihm gut zu: »Das sind doch keine Statisten. Die werden nicht manipuliert.«
»Nicht in dem Sinne, dass man sie dafür bezahlt hätte, die Buchhandlungen in der Rue Dupuytren abzuklappern. Aber seien wir realistisch, alle Konsumenten werden heutzutage manipuliert. Wir alle werden als Konsumenten manipuliert.«
Ivan hatte tatsächlich Grund zu Sorge, wie ich später erfahren sollte; er hatte mit niemandem darüber gesprochen, es waren bezifferbare Gründe. Die Verkaufszahlen des Guten Romans waren
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