Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
schreibe nicht an ihrem Grab, auch nicht vor ihrem Haus. Ich habe ihr Grab und ihr Haus aufgesucht, die beide am Wasser liegen, aber ich schreibe im Hotel und versuche, nicht allzu oft von Francescas Gesichtern zu träumen, denn ich bin nur für wenige Tage hier, und ich möchte hier zu einem Ende kommen.
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W ir mussten in die Buchhandlung zurück, weitermachen, lesen, über Bücher sprechen, mit Begeisterung über die besten Bücher sprechen.
Ich weiß nicht, was wir ohne Oscar gemacht hätten. Van schrieb keine einzige Zeile über Francesca im Internet. Er wollte nichts über sie sagen. Er verweigerte den Presseleuten jedes Gespräch. Er sagte höchstens zehn Sätze am Tag.
Oscar gab im Bulletin die nötigen Informationen. Er stellte ein wunderschönes Foto von Francesca ins Netz, das ihm ein Unbekannter geschickt hatte: mit abgewandtem Gesicht vor einem Hintergrund von Wolken. Oscar beantwortete im Forum alle Fragen. Ja, natürlich, Der gute Roman überlebe. Nein, an der Linie ändere sich nichts. Alles werde weitergehen, das Komitee, die Abonnements, der Freundeskreis. Das Team bleibe dasselbe. Der Geist des Guten Romans werde weiterhin Francescas Geist bleiben.
Van verbrachte die meiste Zeit oben in dem großen Büro. Wir bemühten uns, ihn möglichst selten zu stören. Dennoch mussten wir hin und wieder mit ihm sprechen. Es mussten Entscheidungen getroffen werden. Doultremont hatte sich nicht wieder gezeigt, natürlich war es nicht zu erwarten, aber wir hofften alle, er habe kein Interesse an der Buchhandlung.
Ivan berief eines Abends nach Ladenschluss eine kleine Versammlung der engsten Mitarbeiter unten in der Buchhandlung ein. Wir mussten die Aufgabenbereiche neu definieren – genauer gesagt, die Aufgaben, die Francesca übernommen hatte, auf die anderen verteilen.
Wenn Van diese Versammlung unten einberufen haben sollte, um uns von dem Büro fernzuhalten, dann machte er sich Illusionen. Ich könnte schwören, dass wir alle an den großen leeren Raum dachten und mancher von uns von dem verrückten Gedanken durchzuckt wurde, gleich würde Francesca die Treppe herunterkommen.
Eine Frage quälte Van. Er brauchte eine Weile, bis er sie auszusprechen wagte. Mich verfolgte sie auch, sie verfolgte uns alle, wir hatten Francesca ja nach dem Unfall nicht mehr gesehen. Und wir wagten sie genauso wenig zu stellen wie Van.
»Ich muss es doch wissen«, sagte Van schließlich, »nein, ich muss es nicht unbedingt wissen, aber ich brauche dieses Wissen.« Wir gingen gerade durch den Jardin du Luxembourg. »Ich komme nicht mehr gegen diese Bilder an. In welchem Zustand war Francesca?«
Ich schlug ihm vor, Heffner zu fragen. Und sagte, auch mir werde es helfen.
Heffner hatte sich nicht in die Untersuchung des Unfallhergangs eingemischt – die Sache sei klar, sagte er –, doch er war bereit, seine Kollegen zu fragen.
Ich entschuldigte mich: »Wahrscheinlich ist das nebensächlich.«
»O nein«, korrigierte mich Heffner. »Das Wie ist außerordentlich wichtig. Wenn jemand eines gewaltsamen Todes stirbt, müssen seine Angehörigen wissen, wie es passiert ist.«
Er erhielt sofort Antwort. »Keine Wunden, kein Blut«, sagte er. Er hatte verstanden, worum es uns ging. »Der Schädel wurde seitlich eingedrückt. Aber es waren keine offenen Brüche.«
Niemand im engsten Kreis des Guten Romans hatte danach gefragt, aber als ich diese Informationen einzeln weitergab, sagten alle, sie seien erleichtert darüber. Die unerträglichen Vorstellungen, die sich jeder machte, verschwammen. Wir konnten nun eine am Boden liegende Francesca vor uns sehen, bleich und mit geschlossenen Augen, aber schön.
Ich habe oft an Heffners Worte zurückgedacht. Die Frage sei wichtig: Wenn jemand eines gewaltsamen Todes stirbt, müssen seine Angehörigen wissen, wie es passiert ist. Denn er hatte nicht alles gesagt, was er wusste. Zwar stimmte, was er gesagt hatte, aber er hatte auch Informationen zurückgehalten.
Francesca war an Schädelbrüchen gestorben, ohne weitere Verletzungen und ohne Blut. Trotzdem war sie entstellt. Die linke Seite des Gesichts war, einschließlich der Schläfe, der Stirn und des Wangenknochens, eingedrückt, und damit die Symmetrie zerstört.
Ich habe den Bericht des Gerichtsmediziners gelesen. Als Van sah, dass ich die Geschichte des Guten Romans aufschrieb, zeigte er ihn mir. Ich hatte Heffners Worte für bare Münze genommen, doch Van hatte gespürt, dass noch etwas fehlte, und den Gerichtsmediziner um den
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