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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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2005
    Méribel, wahrscheinlich zum letzten Mal. Mein geliebter alter Großvater pflegte zu zitieren, was ein Freund von ihm, ein Jesuit, sagte, als er starb: Man muss nackt ankommen.
    Die letzte beschriebene Seite des Hefts trägt das Datum des 20. Januar 2006. Es ist der längste Eintrag. Darüber stehen die Worte: Nach dem Mittagessen im Grille.
    Jetzt ist es vorbei, ich habe Sie verloren. Als wäre es ganz offensichtlich, sagten Sie mit Blick auf Henri: Sie lieben ihn. Ich habe Sie nicht auf Ihren Irrtum hingewiesen.
    Ich bin nicht so blind zu glauben, alles sei gesagt. Ich habe so wenig dazu gesagt, vor meinem vollen Teller, auf den eine meiner Tränen fiel, ein leises Plitsch. Aber wahrscheinlich ist für Sie alles klar und eindeutig.
    Ich will Sie nicht verlieren. Ich wollte auch nicht illoyal oder unehrlich sein. Wahrscheinlich haben Sie meine Gründe nicht verstanden – ich war wieder einmal völlig konfus. Ich werde versuchen, es schriftlich ein bisschen klarer auszudrücken. Vielleicht werden Sie diese Zeilen eines Tages lesen.
    Mein Großvater war seit drei Monaten tot, und ich hatte keine Angehörigen mehr, als ich Henri begegnete. Ich schwankte, und er reichte mir die Hand. Ich wusste nicht, wohin, und er führte mich in eine Welt hell strahlender Freude.
    Er war damals nicht der, der er heute ist. Er war ein hoher Beamter mit scharfem Verstand, er war kreativ und unternehmungslustig. Später infizierten ihn die Viren Geld und Macht, und er wurde zynisch. Doch ich bin dieser leuchtenden Liebe unserer ersten Begegnung treu. Ich zwinge mich nicht dazu, ich bin einfach nicht frei. Es geht nicht um ein Prinzip und schon gar nicht um eine Willensanstrengung.
    Damals stellte ich mir diese Liebe als eine ewige vor. Und diese damalige Liebe stelle ich mir immer noch so vor. Was folgte, hat jene Augenblicke unserer Liebe nicht beeinträchtigen können. Die Zeit hatte keine Macht über sie und nicht einmal der Tod, denn in gewisser Weise ist diese Liebe tot.
    Auch wenn dies für mich eine Art Fixstern ist, heißt das nicht, dass ich ihn mit Gleichmut sehe. Ich liebe Sie, und ich bin durch eine andere, zugleich tote und lebendige und sehr schmerzhafte Liebe gebunden.
    Deshalb konnte ich es Ihnen, obwohl mir Ihr Anblick ein solches Glück bedeutet, nur halb zu verstehen geben, als ich ein einziges Mal, in einem nicht zu Ende gesprochenen Satz, offen zu Ihnen war, um Ihnen gleich darauf entschieden zu sagen, dass ich nichts von Ihnen erwartete. Dass ich nichts von Ihnen verlangte, war einfacher zu sagen, und außerdem die Wahrheit. Ich hatte Ihnen nichts zu bieten, ich wollte nichts von Ihnen und schon gar nichts mit Ihnen.
    Zufällig waren Sie zu dieser Zeit in eine junge Frau verliebt, von der ich gleich dachte, dass sie alles von Ihnen erwarte. Eine einfache Situation, nicht wahr?
    Doch wenn ich ehrlich bin, darf ich Ihnen hier nicht verschweigen, dass ich an Ihrer Seite Tag für Tag das durchlitt, was man ein wenig übertrieben als Liebe, Tod und Leidenschaft bezeichnet.
    Sie haben sich sicher gefragt, warum ich von Zeit zu Zeit verschwand und manchmal nicht antwortete, wenn Sie mit mir sprachen. Hier haben Sie den Grund: Auch wenn man nichts erwartet und nichts will, ist es nicht einfach zuzusehen, wie eine junge Frau die Rolle ausfüllt, die man in einem anderen Leben gern gespielt hätte, wenn man sieht, wie glücklich sie ist, und schlimmer noch, wie glücklich sie macht.
    Alles ist gut. Ich habe an nichts, was immer es sein könnte, etwas auszusetzen. Ich bin niemandem gram, weder Ihnen noch ihr, nicht einmal mir. Nur könnte mir die Prüfung vielleicht ein wenig zu hart werden, so sehr, dass ich aus Schwäche oder in einer Aufwallung von Energie das Weite suche, um endlich wieder zu Atem zu kommen.
    Van und ich haben stundenlang über diese Mitteilungen gesprochen. Es fiel mir schwer zu glauben, dass sie von der großen Dame stammten, die ich noch vor Augen hatte: so selbstsicher, so stolz unter den Schlägen und so außergewöhnlich schön mit ihren herrlichen Augen.
    Sie sei widersprüchlich, aber auch einfach gewesen, erklärte mir Ivan. Zugleich eine Frau, die ihrer ersten Liebe treu bleibt, und eine Liebende, die es halb verrückt macht, von der Rivalin besiegt zu werden. Zugleich kühn und matt, heiter und schmerzvoll. Zugleich eine Unbezähmbare, die lächelnd alles durchsteht, und eine Gebrochene, die schließlich fällt.
    Ihr Ausdruck »das Weite suchen« wurde von Van und mir übernommen. Wenn

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