Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
Bericht gebeten.
Er wollte an dem Büro, das er und Francesca geteilt hatten, nichts ändern, nicht einmal die Papiere ordnen. Einen Monat lang ließ er niemanden in diesen Raum. Selbst ich klopfte, öffnete und blieb an der Schwelle stehen.
Doch Heffner ermittelte in seinen wenigen freien Momenten weiter. Er kam nur sehr langsam voran, man hatte ihn mit einem umfangreichen Fall betraut. Er ermittelte in völligem Einvernehmen mit Van.
»Irgendwann«, sagte er zu Van, »müssen wir Francescas Schreibtisch öffnen und ihre Papiere ordnen.«
»Sie meinen, wir müssen sie lesen?«, fragte Van.
»Sie lesen, ja.«
Ich war bei diesem Wortwechsel anwesend und bemerkte, dass Heffner, der Francescas Vornamen zu ihren Lebzeiten nie ausgesprochen hatte, sie nun, wenn er von ihr sprach, nie anders nannte.
Van antwortete weder mit Ja noch mit Nein. Er tat einfach nichts, sagte nichts, was Heffner als ein »Dann bitte« hätte auffassen können. Ich fragte Van, ob er Francescas Papiere lieber selbst ordnen wolle. Bloß nicht, antwortete er. Ich bot Heffner an, ihm zu helfen, und er nahm mein Angebot an.
Als Heffner und ich ins Büro gingen, verließ Van es.
Francescas Sachen waren nach einem klaren Prinzip geordnet. Auf der rechten Seite ihres Schreibtischs, sowohl auf der Schreibfläche als auch in den Schubladen, befand sich alles, was mit Romanen und Literatur zu tun hatte: Bücher natürlich, Artikel und Notizen. Auf der linken Seite waren die Dokumente und Papiere, die mit der geschäftlichen Seite des Guten Romans zu tun hatten. Heffner sah sie Stück für Stück durch – ich verstehe von diesen Dingen nichts. Er zeigte sie dem Rechnungsprüfer der Buchhandlung. Aubert bestätigte Heffners Beobachtungen: In der Buchführung gab es ganz klar Unregelmäßigkeiten. Francesca hatte viele Rechnungen für sich behalten und bezahlt, die höchsten, die Kreditrückzahlungen.
Wir hätten uns denken können, dass die Schuldenlast groß war, spätestens, als Francesca ihr Chalet in Méribel verkaufte. Aber wir waren ja so dumm gewesen. Wir hatten nicht einmal vermutet, dass sie Kredite hatte aufnehmen müssen, so überzeugt waren wir von der Unerschöpflichkeit eines großen Vermögens. Wir konnten uns gar nicht vorstellen, wie teuer zum Beispiel, und dies als einziges Beispiel, eine Werbekampagne wie die vor der Eröffnung des Guten Romans ist.
In der untersten Schreibtischschublade auf der linken Seite hob Francesca Persönliches auf. Die Schublade war nicht verschlossen. Sie enthielt Fotos von Violette, private Briefe und ein kleines, graublau eingeschlagenes Heft mit einigen in Francescas Handschrift beschriebenen Seiten.
Ich war diejenige, die das Heft fand, sonst hätte ich wohl nie davon gehört, denke ich. Man hätte es vor mir versteckt.
Ich las es auf der Stelle, im Stehen und ohne noch etwas anderes zu hören oder zu sehen. In fünf Minuten hatte ich alles gelesen. Es waren sieben handschriftliche Seiten.
Wahrscheinlich sah Heffner mich lesen, er sah sicher auch, dass diese wenigen Seiten mir sehr zu Herzen gingen. Kaum an der letzten Zeile angelangt, klappte ich das Heft zu und gab es ihm. Er las es ebenfalls. Als er damit fertig war, wollte er mir das Heft zurückgeben. Doch ich nahm es nicht.
»Es sind Briefe, Briefe für Van.«
»Nicht eigentlich Briefe«, sagte Heffner. »Ich könnte schwören, dass Francesca nie vorhatte, sie abzuschicken.«
»Ihre Schublade war nicht verschlossen.«
»Eben. Man schreibt etwas auf, konzentriert das Wichtigste darin, man weiß, man wird es nie abschicken, trotzdem wird der Adressat es vielleicht eines Tages lesen – und dafür schreibt man. Das ist der Sinn und Zweck dieses Schreibens.«
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I n dem Heft steht nichts über die Anfänge des Guten Romans , nichts über die Gespräche im Januar 2004 in Méribel, die ihm Gestalt verliehen, nichts über die monatelangen Vorbereitungen in Paris, nichts über die Eröffnung der Buchhandlung Ende August 2004, nichts über die Angriffe und Anschläge. Das ganze Heft hindurch schreibt ein »ich« einem »Sie«, bei dem es sich, wie aus mehreren Einzelheiten hervorgeht, um Ivan handelt. Jede Eintragung ist datiert, beginnend mit dem 2. Juli 2004 und bis zu der langen Erklärung vom 20. Januar 2006.
Anderthalb Jahre, sieben Seiten: die Essenz eines Tagebuchs.
Anfangs, von Juli 2004 bis Mai 2005, kommt es einem vor wie ein hingetupftes Porträt.
20. Juli 2004
Sie schauen. Sie hören zu. Sie antworten häufiger, als Sie einen
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