Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
zentrale Punkt, und er sah nur eine Lösung. Zum Glück – wobei das Wort Glück hier nicht im Mindesten die üblicherweise mitschwingende Zufälligkeit einschließt – war Francesca bei ihren Überlegungen auf dieselbe Idee gekommen wie er. Es gab nur eine Methode, die Auswahl durfte nicht einem einzigen Menschen überlassen werden, nicht einmal zweien, dann wäre sie zu willkürlich. Es musste ein Komitee aus mehreren ausgewählten Schriftstellern gebildet werden, von denen jeder eine Liste mit seinen dreihundert Lieblingsromanen einreichen sollte. Sie würden jedoch nicht nur die Romane in den Bestand aufnehmen, die alle vorgeschlagen hätten, sondern sämtliche Titel sämtlicher Listen, bis auf die Dubletten natürlich.
»Dreihundert?«, hakte Van nach.
Es sollten mindestens dreihundert pro großen Autor sein, darauf beharrte Francesca, schon aus methodischen Gründen. Wenn man jeden Schriftsteller nach seinen fünfzig liebsten Romanen frage, bestehe die Gefahr, dass es jedes Mal dieselben fünfzig seien. Um außer den anerkannten Meisterwerken auch noch andere gute Romane aufzuspüren, müsse man die Komiteemitglieder dazu bringen, verkannte große Bücher vorzuschlagen – und das würden sie nur tun, wenn sie mehr als die Titel der fünfzig selbstverständlichen Bücher nennen dürften. Die zweihundertfünfzig übrigen Bücher seien die eigentlich interessanten, denn sie machten den Unterschied zwischen Der gute Roman und bereits bestehenden guten Buchhandlungen aus.
Also dreihundert Titel pro Komiteemitglied oder eigentlich zweihundertfünfzig. Aus wie viel Mitgliedern sollte das Komitee bestehen? Sechs? Acht? Zehn? Zwölf? Mit dieser Frage begann das Essen am vierten Abend. Es war eine wesentliche Frage. Würde Der gute Roman tausend Romane vorrätig haben? Zweitausend? Dreitausend? Wie viele große Romane gab es in französischer Sprache, die Übersetzungen mitgezählt? – Denn noch am selben Abend war es beschlossene Sache, dass es französische Romane sein sollten und dass die Buchhandlung in einem frankophonen Land eröffnet würde.
Van und Francesca überlegten zwei Stunden lang. Da sie sich keinerlei Grenzen setzten, weder im Raum noch in der Zeit, und ihnen die aktuelle Literatur nicht wichtiger war als die der – überaus reichen – vergangenen Jahrhunderte, da sie kein Land, und sei es noch so klein, ausschlossen und es mehr als einen guten ins Französische übersetzten Roman gab, würde ihre Auswahl groß sein. Es gab Tausende großer Romane in französischer Sprache.
»Vor allem müssen wir herausfinden, was wir unter einem ›großen Roman‹ verstehen«, sagte Francesca.
»Das wollte ich gerade sagen«, pflichtete ihr Van eifrig bei. »Lassen wir die oberste Schicht beiseite, die zwei- oder dreitausend eindeutig als solche erkennbaren Meisterwerke. Schwierig wird die Sache bei der Frage nach den anderen großen Romanen. Ich würde das Problem gern anders stellen: Ich glaube, wir sollten uns fragen, wie hoch wir die Messlatte hängen, und unsere Jurymitglieder sollten sich das in jedem Einzelfall fragen. Was ist zum Beispiel mit Nancy Mitfords Liebe unter kaltem Himmel : Soll Der gute Roman es führen oder nicht?«
»Nein«, erwiderte Francesca. »Es ist ein verblüffendes Buch, ich habe es mehrmals gelesen und dabei manchmal laut gelacht, und man erfährt mehr über England als bei einem langen Aufenthalt in diesem Land. Aber Der gute Roman wird Besseres bieten. Wir haben von den Engländern den Sinn für ironische Untertreibung übernommen, deshalb und nur deshalb nennen wir unsere Buchhandlung nicht Der große Roman .«
Ivan dachte nach.
»Wie viele solcher großer Romane gibt es auf Französisch? Tausende, ja, aber wie viele? Ich werde die Frage noch einmal neu stellen. Wir sollten furchtlos Willkür walten lassen: Unsere Auswahl ist ja nicht minder willkürlich. Legen wir eine Anzahl von Romanen fest, die uns als gute Ausgangsbasis erscheint, und fangen wir einfach damit an.«
»Dreitausend?«, fragte Francesca.
»Ein bisschen mehr. Wenn ich meinen kleinen Keller bis zum Platzen vollstopfe, kann ich etwa tausendachthundert Bücher unterbringen. Der gute Roman könnte mit mindestens dem Doppelten anfangen, denke ich.«
»Zwischen dreitausendfünfhundert und viertausend?«
»Ja, genau. Das entspricht ungefähr der Kapazität einer herkömmlichen Buchhandlung, will heißen einer Buchhandlung herkömmlicher Größe – Sie verstehen, was ich meine?«
»O ja. Fangen wir damit
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