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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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war Van auf dem Weg nach Paris. Sosehr er sie auch gebeten, sooft und so eindringlich er ihr die Wandmalerei, wie er sie jetzt sah – die junge Frau fällt von der Brücke, der Schutzmann springt hinterher und fängt sie auf, noch bevor sie das Wasser berührt, und die beiden schweben über die Dächer davon –, beschrieben hatte, Anis hatte nicht mit ihm kommen wollen.
    »Ist er denn so furchtbar wichtig, dieser Magister?«, hatte er empört gefragt.
    Doch er war sofort zurückgerudert, als er die Verständnislosigkeit auf Anis’ erbleichendem Gesicht sah.
    »Natürlich ist das Studium wichtig. Sehr. Nur … Schließlich kann man auch woanders als in Grenoble studieren.«
    »Aber ich bin hier eingeschrieben.«
    »Verstanden.« Van machte eine Wendung um hundertachtzig Grad. »Ich suche mir ein Zimmer in Grenoble. Ich will Sie nicht verlieren.«
    Doch da wurde Anis streng.
    »Wenn Sie den Guten Roman fallen lassen, spreche ich kein Wort mehr mit Ihnen.«
    Außerdem müsse sie sich wieder hinter ihre Arbeit klemmen. Im April habe sie eine ganze Reihe von Prüfungen.
    Ivan wäre nicht zurückgefahren, wenn sie nicht zweierlei versprochen hätte: ihn künftig jeden Morgen und Abend von einem Handy aus, das er ihr gegeben hatte, anzurufen und so bald wie möglich ebenfalls nach Paris zu ziehen.
    »So bald wie möglich «, hatte sie betont. »Ich muss erst das Studienjahr abschließen. Danach muss ich noch ein Zimmer im Quartier latin finden, und das ist gar nicht so einfach, das weiß ich.«
    »Das 9. Arrondissement ist so viel besser«, hatte Van sein Glück versucht. »Zumal es quasi das Quartier latin ist, das neue Athen. Im 9. könnte ich ganz schnell eine Bleibe für Sie finden.«
    Vergebens. Anis blieb hart. Sie gab zwar zu, dass das Quartier latin nicht mehr viel zu bedeuten habe, dass man es auch ein bisschen großzügiger auslegen könne, doch das war ihr egal, sie würde sich an der Sorbonne einschreiben, sie wollte zu Fuß zur Uni gehen können, und deshalb würde sie auf der Rive gauche wohnen, im 5. oder im 14., höchstens noch im 13. Arrondissement.

20
    D ie sechs übrigen Listen trafen im Laufe des Monats April ein. Einen nach dem anderen luden Ivan und Francesca die sechs »Roman-Weisen« zu einem Treffen ein. Mit Larry de Winter und Gilles Évohé – den Van schon im Februar kennengelernt hatte – trafen sie sich in Paris, ebenso wie mit Marie Noir. Paul Néant, Armel Le Gall und Ida Messmer zogen es vor, die beiden in die Provinz kommen zu lassen.
    Larry de Winter war groß, mager und anmutig, ein in die Jahre gekommener Tänzer, darauf hätte jeder geschworen. Als ehemaliger Diplomat kannte er die Literaturen der ganzen Welt, und er hegte eine besondere Vorliebe für die eher unbekannten.
    »Vielleicht geben Sie mir den Preis für die exotischste Liste«, sagte er. »Ich bitte Sie schon im Voraus um Entschuldigung für die Mühe, die Sie bei der Beschaffung bestimmter indonesischer oder nigerianischer Titel haben werden. Ich muss allerdings sagen, dass ich zu meiner Überraschung viel mehr französische Autoren auf die Liste gesetzt habe, als ich anfangs dachte. Nicht aus Voreingenommenheit, das dürfen Sie mir glauben. Aber manche junge französische Autoren sind dermaßen begabt.«
    Er hatte Francesca und Van angeboten, sie bei sich zu Hause in der Rue de Beaune zu empfangen. Alles in der kleinen Dachgeschosswohnung war wie er, auf den ersten Blick klassisch, eigentlich jedoch ausgefallen, so jedenfalls wurde es mir später beschrieben, Möbel aus den Fünfzigerjahren, Bücher in Art-déco-Einbänden, rätselhafte Kuriositäten und ein irgendwie englisch wirkendes ganzfiguriges Porträt – ein ihm wie aus dem Gesicht geschnittener Edelmann in einem Park.
    Als er sah, dass Van Vergleiche und Schlüsse zog, öffnete er beide Hände zu einer Geste, als wolle er sagen, er könne nichts machen.
    »Diese wenigen Erinnerungsstücke stammen von meiner Mutter. Sie hatte einen fantastischen Geschmack und viel Geld aus ihrer Bankiersfamilie. 1935 wurde sie deportiert. Da war ich schon seit zwei Jahren in einem Schweizer Internat.«
    Er sprach, wie er schrieb, sein Französisch war kostbar in dem Sinne, in dem große Juweliere diesen Begriff verwenden: äußerste Strenge bei der Auswahl der Materialien, von Farbe, Glanz, Formen- und Zusammenspiel, hochpräziser Schnitt und bloß nichts Protziges. Van und Francesca hätten ihm stundenlang zuhören können. Er machte eine Anspielung auf die sehr kleinen

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