Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
machte Ivan plötzlich kehrt und rannte Scaf hinterher, der schon wieder auf dem Fahrrad saß. Als er zu ihr zurückkam, schwenkte er eine gelbrote Plastiktüte mit der von weit her sichtbaren Aufschrift »Nicolas«. »Die Liste«, erklärte Van. »Er hat vergessen, sie uns zu geben.«
Marie Noir war eine rundliche und sanfte Frau, die, wie Ivan vermutete, noch dieselbe Kleidung bevorzugte wie mit zwanzig Jahren. Mit einer gewissen nostalgischen Rührung und einem Gefühl innigen Einverständnisses betrachtete er den handgewebten Alpakaponcho, die mit den Jahren speckig gewordenen Naturledersandalen, die Umhängetasche aus indischer Baumwolle und den dicken, jetzt grau durchzogenen Zopf. Er und Francesca wussten, dass Marie Noir anerkannte Spezialistin für präkolumbianische Kunst war, deshalb wunderte Van sich, als er sie mit glänzenden Augen von fair gehandelten Marmeladen und den unvergleichlichen Gemüsen schwärmen hörte, die nun dank der AMAP, einem Verband zur Förderung biologisch wirtschaftender Kleinbauern, erhältlich seien. Denn Marie Noirs Romane waren zwar herrlich, aber auch pechschwarz und von einem Zynismus, den nichts milderte, nicht einmal die Gestalt eines kindlichen Engels, der an jedem Romanende eine stille Wandlung durchmachte.
»Ein Pseudonym?«, fragte sie. »Quinoa.«
»Sehr hübsch«, sagte Francesca etwas unsicher, denn sie wusste nicht, ob es sich um einen prähistorischen Säbel handelte oder um ein für den Totenkult bestimmtes Musikinstrument.
»Vor allem ist es nahrhaft und gesund«, erwiderte Marie. »Und auch nicht schwieriger zuzubereiten als Reis. Eins meiner Lieblingsbücher, ein kleines Meisterwerk aus den Sechzigern, heißt Mille riz, mille recettes de riz . Natürlich sind es nicht ganze tausend Reisrezepte, aber man erfährt, dass es Reis in allen möglichen Farben und Formen gibt und unendlich viele Zubereitungsmöglichkeiten. In einem bengalischen Roman, den ich wunderbar finde, beschreibt der Autor zwölf Seiten lang die Zubereitung eines traditionellen Hochzeits-Reisgerichts, eine unvergessliche Passage.«
Offensichtlich sah diese Frau keine Rangordnung, was kulturelle und sinnliche Genüsse anging. Vielleicht nicht einmal einen Unterschied. Die Spielregeln, denen sich die Komiteemitglieder beugen mussten, die Untergrundarbeit, das Geheimnis, die nicht nachweisbare Urheberschaft, schienen sie zu amüsieren.
»Was ist mit den Neuheiten?«, fragte sie. »Mit den Büchern, die in den nächsten Jahren erscheinen? Wer soll die Auswahl treffen?«
Van erklärte ihr seinen und Francescas Beschluss, gar nicht zu beachten, wie neu ein Roman war.
»Die Neuerscheinungen überlassen wir den anderen Buchhändlern«, sagte er. »Das wenigstens wird uns das Wohlwollen der Konkurrenz eintragen. Nach einer gewissen Zeit werden wir natürlich diejenigen Romane in unser Sortiment aufnehmen, die es unserer Meinung nach verdienen. Wie ich Ihnen, glaube ich, schon sagte, möchten wir, dass die Komiteemitglieder ihre ursprüngliche Liste jedes Jahr ergänzen. Anlässlich dieser jährlichen Ergänzung werden wir die Neuerscheinungen oder Fast-Neuerscheinungen einbeziehen.«
Doch Marie Noir war damit nicht einverstanden.
»Stellen Sie sich vor, im Herbst kommt ein wunderbares Buch heraus, aber niemand beachtet es. Das geschieht jedes Jahr: Ein, zwei oder drei bemerkenswerte Romane gehen still unter und lagern sich auf dem Grund ab. Sie können natürlich so tun, als ginge Sie das nichts an, und sie erst achtzehn Monate später vom Meeresgrund bergen. Aber ich fände es sowohl für das Buch als auch für den Autor als auch für den Leser besser, wenn Sie solche Romane gleich nach Erscheinen in Ihrer Buchhandlung anbieten würden.«
»Wer könnte so schnell eine Auswahl treffen?«
»Sie beide. Diese Auswahl ist die Aufgabe der Buchhändler. Ich würde sogar sagen und folge damit ihren Vorstellungen, sie ist der Kern der buchhändlerischen Arbeit. Wenn Sie absolut wollen, können Sie Ihre Zusatzauswahl ja dann vom Komitee bestätigen lassen.«
Van und Francesca diskutierten lange über diese Frage. Francesca wäre es am liebsten gewesen, wenn in der Öffentlichkeitmehr oder weniger die Meinung geherrscht hätte: Der gute Roman führt nicht die Bücher, über die alle Welt spricht. Sie hätte nicht einmal etwas gegen ein strenges Prinzip gehabt à la »Jeder unserer Romane ist mindestens ein Jahr alt«. »Ich bin mit der Liebe zu den Büchern aufgewachsen«, sagte sie, »und ich wurde
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