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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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von einem leidenschaftlichen Leser angeleitet. Aber ich kann mich nicht erinnern, bei ihm oder bei uns je eine Neuerscheinung gesehen zu haben.«
    Van hingegen konnte Marie Noirs Sichtweise nachvollziehen. Der Gedanke, einen wertvollen Roman nicht gleich nach seinem Erscheinen zu unterstützen, machte ihm zu schaffen.
    »Vor allem heutzutage, wo sich das Schicksal eines Buchs in den ersten Wochen nach seinem Erscheinen entscheidet. Und wo man doch weiß, dass ein in ein ganz bestimmtes Buch vernarrter Buchhändler leicht fünfhundert oder tausend Exemplare davon verkaufen kann.«
    Aber er wusste auch, und noch besser als Francesca, wie viel Arbeit damit verbunden sein würde.
    »Wenn wir die Neuerscheinungen des nächsten Herbstes sichten wollten, zöge das in der Praxis einiges nach sich, wir müssten den Verlagen im Mai oder Juni mitteilen, dass wir im September eröffnen wollen, wir müssten unsere Absicht verschleiern, das office abzulehnen, wir müssten uns die Herbstvorschauen beschaffen und möglichst viele Leseexemplare und Fahnenabzüge, um dann den ganzen Sommer zu lesen. Das habe ich in Méribel jahrelang gemacht: fünf- oder sechshundert Bücher lesen, um zehn herauszufiltern.«
    »Wir sind zu zweit«, sagte Francesca. »Das wären für jeden dreihundert.«
    »Seien wir ehrlich: Man kann eine vernünftige Auswahl treffen, ohne alle Bücher von A bis Z durchzulesen. Bei achtzig Prozent der Bücher reicht es, die ersten Seiten zu lesen. Die Stammkunden der Buchhandlungen wissen das, denn genau das tun sie: in den Büchern blättern. Die übrigen zwanzig Prozent hingegen müssen aufmerksamer gelesen werden. Dann bräuchten wir uns nur noch hundertzwanzig Bücher teilen. Francesca, eben sprachen Sie von der Liebe zu den Büchern, die Ihnen vermittelt wurde. Dachten Sie an Ihren Großvater? Sie sollten mir mehr von ihm erzählen.«
    »Mein Großvater Aldo-Valbelli ist der Mensch, der in meinem Leben die größte Rolle gespielt hat. Ich hätte es schön gefunden, wenn jemand an seine Stelle getreten wäre. Aber es ist, wie es ist. Ich habe ihn maßlos geliebt, und er hat mich geprägt.
    Es kommt vor, dass ein Ruf die Grenzen nicht überwindet, nicht einmal die Grenze zwischen so verwandten Ländern wie Italien und Frankreich. So war es auch bei ihm. In Italien genoss er sehr große Hochachtung, als Intellektueller, aber auch als engagierter Mensch. Zunächst war er ein renommierter Historiker, einer dieser Gelehrten alter Art, wie es sie nur noch in Italien gibt, er kannte sich in der Philosophie ebenso gut aus wie in der Literatur und in den Naturwissenschaften. Sein Werk als Historiker hat ihn bekannt gemacht. Ich – und ich stehe damit keineswegs allein – finde seine Romane nicht minder bemerkenswert. Doch als großer Mann wird er verehrt, weil er sich zu seiner Zeit engagierte. Er war einer der ersten und mutigsten Gegner des Faschismus. Deshalb war er Verfolgungen ausgesetzt, unter denen vor allem seine universitäre Laufbahn litt. Während des Kriegs war er der Kopf eines Untergrundnetzes. Und als der Krieg vorbei war, hatte er, ohne dass er es gewollt hätte, große moralische Autorität, er wurde Senator und war mehrmals Minister, er gehört zu den Gründern des modernen Italien. Als noch relativ junger Mann gab er alle politischen Ämter auf, um sich wieder seiner intellektuellen Arbeit zu widmen, dieses dritte Kapitel seines Lebens war ein langes, denn er wurde siebenundachtzig Jahre alt.«
    »Haben Sie ihn gut gekannt?«
    »Als er starb, war ich zwanzig. Wir standen uns nahe. Wir lebten zwar nicht zusammen, aber in räumlicher Nähe, im selben Haus in Rom, er im ersten Stock und meine Eltern und ich im zweiten. Meine Eltern waren ständig auf Reisen. Er arbeitete wie besessen. Am Ende seines Lebens, als ich ein Teenager war, verließ er sein Arbeitszimmer praktisch nicht mehr.
    Er hatte eine wunderbare Bibliothek – aber nicht riesig, denn er war kein Büchersammler. Ich habe seine Worte noch im Ohr: So viele wirklich gute Bücher gibt es nicht, man darf nicht nur Geschichten erzählen. Das hat sicher eine Rolle gespielt bei der Entstehung des Guten Romans .
    Er schenkte mir Romane, manchmal gleich, nachdem er selbst sie für sich entdeckt hatte – er hatte keine Hemmungen zuzugeben, dass er trotz seines hohen Alters so bekannte Bücher wie Prousts Jean Santeuil oder Balzacs Herzogin von Langeais zum ersten Mal las –, viele ausländische Romane, alle Klassiker, aber auch Romane, die kein

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