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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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Mensch liest. Ich fand es herrlich, mit ihm über diese Bücher zu sprechen. Die Initiative dazu überließ er immer mir. Nie fragte er: ›Nun, was meinst du zu diesem Buch?‹ Wenn er Rom doch einmal verlassen musste, schrieb er mir lange Briefe, ganz als wäre ich eine gleichaltrige kultivierte Freundin.
    Er hat mir seine sämtlichen Bücher hinterlassen. Ich erfuhr erst nach seinem Tod, dass er dies bereits an meinem zehnten Geburtstag testamentarisch festgelegt hatte. Die Bibliothek ist vollständig erhalten geblieben. Ich habe eine Stiftung gegründet. Der Palazzo ist jetzt mitsamt der Bibliothek ein kleines Forschungszentrum.
    Mein Großvater hat mir jedoch noch viel mehr hinterlassen, die leidenschaftliche Liebe zur Literatur und noch etwas, etwas Grundlegendes: die Überzeugung, dass Literatur wichtig ist. Er sprach oft darüber. ›Die Literatur ist eine Quelle des Vergnügens‹, erklärte er, ›eine der wenigen unerschöpflichen Freuden, aber nicht nur. Man darf sie nicht von der Wirklichkeit trennen. Alles ist in ihr. Deshalb verwende ich auch nie das Wort Fiktion. All die Feinheiten des Lebens sind der Grundstoff der Bücher.‹ Dieser Punkt war ihm wichtig. ›Dir ist doch klar, dass ich vom Roman spreche?‹, fragte er mich. ›In Romanen kommen nicht nur Ausnahmesituationen vor, Entscheidungen über Leben und Tod, Feuerproben, sondern auch ganz normale Schwierigkeiten, banale Versuchungen und Enttäuschungen – und als Antwort darauf alle erdenklichen menschlichen Haltungen, alle Reaktionen, von den erhabensten bis hin zu den erbärmlichsten. Wenn man es liest, fragt man sich, was man selbst getan hätte. Und man muss es sich fragen. Merk dir: Das ist eine Möglichkeit, leben zu lernen. Die Erwachsenen werden dir sagen, es sei nicht so, die Literatur sei nicht das Leben, Romane enthielten keine Lehren. Sie sind im Irrtum. Die Literatur informiert, lehrt, übt.‹«
    Francesca verstummte. Sie war bewegt.
    »Sie haben mir einmal gesagt, Ihr Großvater habe Ihnen aus dem Jenseits noch etwas Gutes getan«, sagte Ivan sanft.
    »Er hat mich vor fünf Jahren aus meiner Niedergeschlagenheit gerissen. Und er hat einen Goldregen auf mich niedergehen lassen.«
    Nach dem Tod ihrer Tochter hatte sie sich verzweifelt nach dem alten Mann gesehnt, jetzt litt sie unter seinem Fehlen noch mehr als sie zwanzig Jahre zuvor, bei seinem Tod, gelitten hatte. Mit allen Mitteln versuchte sie in Kontakt zu ihm zu treten, Hilfe von ihm zu erlangen, an seiner festen alten Hand durch ihre Hölle zu gehen.
    Das einfachste Mittel erwies sich zugleich als die einzige Tätigkeit, die ihr Leid ein wenig zu lindern vermochte: Sie begann, die Manuskripte zu lesen, die ihr Großvater ihr hinterlassen hatte. Ob aus Schüchternheit, Scham oder Angst: Bis dahin hatte sie die Pappkartons, die er sorgfältig für sie geordnet hatte, nicht geöffnet. Sie entdeckte Aufzeichnungen, Buchprojekte, die ihr Großvater aufgegeben hatte – er erklärte, warum –, Entwürfe, Tausende von Briefen und ein Tagebuch in hundertelf Heften gleichen Formats.
    Das Tagebuch erfasste dreiundsechzig Jahre, von 1914 bis 1977. Es war so genau und ging so sehr in die Tiefe, dass man es als eine außerordentliche Beschreibung der Geschichte Italiens in diesen Jahren betrachten konnte. Vor allem die Hefte 1939 – 1945 lasen sich wie ein großer Roman – der Widerstand im Maquis, die Invasion der Alliierten in Italien, das Ende des Faschismus.
    Francesca tippte das vollständige Tagebuch allein ab. Der Mailänder Verleger, dem sie die mehreren Tausend Seiten übergab, war begeistert und veröffentlichte sie.
    »Das ist nun bald vier Jahre her«, sagte Francesca. »Das Tagebuch hatte beträchtlichen Erfolg. Mehr als eine Million Exemplare sind verkauft worden. Unzählige Artikel wurden darüber geschrieben. Es wurde bereits in zwanzig Sprachen übersetzt.«
    Auch in Frankreich war darüber gesprochen worden, jetzt erinnerte sich Van daran.
    »Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Geld.«
    »Wie bitte?«, fragte Van erstaunt.
    »Ich habe nie ein eigenes Einkommen gehabt«, erklärte sie. »Es ist eine Sache, zwei oder drei Häuser zu besitzen; es ist eine andere Sache, mit einem gut verdienenden Mann verheiratet zu sein; und es ist noch eine ganz andere Sache, wenn man plötzlich selbst viel Geld verdient.
    Mir kam sofort ein Gedanke, der mich nicht wieder losgelassen hat: etwas damit zu tun. Ich war davon besessen, etwas Gutes zu tun. Verzeihen Sie, ich

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