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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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Metrostation Odéon. An den Gebäudefassaden, zwischen den Schaufenstern, an der Rückwand des Zeitungskiosks, an den halbhohen Mäuerchen beiderseits der Rolltreppe, an der Schautafel mit dem Stadtplan klebten dreißig bis vierzig Exemplare des Artikels, genau auf Augenhöhe.
    »Ich komme von Saint-Germain«, sagte Francesca. »Da kleben sie auch überall vor der Kirche. Ich liebe Wandzeitungen. Und diese schien ganz frisch angeklebt zu sein, also bin ich natürlich gleich hingegangen und hab’s gelesen.
    Als ich die gleichen Wandzettel auch hier an der Metro entdeckt habe, bin ich kurz zur Place de l’Odéon hinübergegangen. Da ist es genauso. Sie kleben überall rings ums Theater.«
    Sie zog die Schultern hoch.
    »Es läuft einem kalt den Rücken hinunter, wenn man sich vorstellt, dass jemand gleich nach Erscheinen hundert Exemplare von Le Ponte gekauft, sie ins Auto gepackt und innerhalb einer Stunde in der ganzen Umgebung der Buchhandlung angeklebt hat. Jemand, der wusste, dass dieser Artikel erscheinen würde.«
    »Ich stelle mir das Ganze anders vor«, sagte Van. »Ich denke mir ein Dutzend junger Leute, denen man je zehn bereits ausgeschnittene Artikel in die Hand gedrückt, einen Bereich zugewiesen und als Devise Schnelligkeit ans Herz gelegt hat.«
    »Wo wäre der Unterschied?«
    »Wir haben es nicht mehr mit einem einzelnen Wüterich wie dem Verfasser dieses Artikels zu tun, sondern mit einem Kommando. Mit einer konzertierten Aktion.«
    »Glauben Sie, wir werden selbst hier noch beobachtet? Und die amüsieren sich noch über unsere traurigen Mienen?«
    »Möglich. Wir sollten nicht draußen bleiben.«
    »Ich rufe Tourterelli an.«
    »Den Chef von Ponte ? Tun Sie es nicht. Damit würden wir einem ungerechten Artikel zu viel Bedeutung beimessen. Wir müssen einfach hoffen, dass viele Freunde des Guten Romans diesem Abéha in derselben Zeitung antworten.«
    »Und sollen wir selbst auch antworten?«
    »Ja, mit einem offenen Brief. Wir werden angegriffen, also verteidigen wir uns. Soll ich einen Entwurf für eine Antwort ausarbeiten?«
    »O ja, bitte. Sie werden es mit mehr Zurückhaltung tun, als ich zustande brächte. Van, mir ist der Gedanke schwer erträglich, dass man uns jetzt beobachtet. Ich muss weg. Rufen Sie mich an.«
    Van verschanzte sich in dem großen Büro über der Buchhandlung. Nach einer halben Stunde war er so weit. Er hatte zwei Arten Argumente, welche die beiden Teile seiner Antwort ausmachten.
    Erstens sei der Artikel voller Unwahrheiten. Van habe seine Identität nie geheim gehalten, sein Name habe bei der Eröffnung der Buchhandlung in der Zeitung gestanden, er sei im Fernsehen aufgetreten, und man finde ihn auf der Website des Guten Romans .
    Er maße sich nicht das Recht an, über die Qualität eines Romans zu urteilen, die Auswahl werde von einem Komitee getroffen, im Geheimen, damit kein Druck ausgeübt werden könne. Diese Vorgehensweise werde ebenfalls auf der Website erläutert, und sie sei in der Presse lang und breit beschrieben worden.
    An dem Projekt sei absolut nichts Totalitäres – müsse man das wirklich noch betonen? –, denn diese Entscheidung für eine bestimmte Art von Romanen sei die einer einzelnen Buchhandlung unter Tausenden anderer Buchhandlungen in Frankreich, und nicht etwa die einer ausschließlichen Autorität, eines Staats oder eines Monopols.
    Zweitens – Vans Stift flog übers Papier – sei Auswahl im Kulturbereich eine gängige Praxis. Museen, Kunstgalerien, Theater- und Kinofestivals träfen eine Wahl. Und bei Büchern täten es die Verleger – indem sie ein Buch veröffentlichten oder eben nicht –, für Literaturpreise sei die Auswahl Sinn und Zweck, und auch die Buchseiten der Zeitungen seien nichts anderes als eine Auswahl, denn sie behandelten nicht einmal ein Zehntel der Romanproduktion; als »gut« geltende Buchhandlungen seien immer schon solche gewesen, in denen niemand einen Hehl aus seinen Vorlieben mache. An all diesen Orten des kulturellen Lebens praktiziere man dieses »das ja, das nein«, was nichts anderes bedeute als: »Das finden wir gut, das nicht.«
    Es war vier Uhr. Ivan rief Francesca an und schlug ihr vor, sich den Entwurf anzusehen. Im La Grille in der Rue Mabillon, bat sie. Es wäre ihr schwergefallen, noch einmal bis zum Carrefour Odéon zu kommen. Sie hätte den Artikel nicht noch einmal dreißigfach vor sich sehen mögen.
    Van wollte das Büro gerade verlassen, da fiel ihm plötzlich auf, dass Abéha wie A.B.A. klang.

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