Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
mich gar nicht wundern, wenn sie alle dieselbe Quelle hätten.«
»Dieses serienweise Verschicken von Zuschriften lässt sich sehr leicht programmieren«, erklärte Oscar. »Glauben Sie bloß nicht, da wären hundert Mann am Werke. Das geschieht automatisch, es gehört zum kleinen Einmaleins der elektronischen Rüpeleien.«
Die positiven Zuschriften, die Der gute Roman erhielt, waren viel zahlreicher und unendlich vielgestaltig – hier hatte jede Zuschrift einen eigenen Verfasser, so viel war klar. So ist es immer, unweigerlich, sobald man Ansprüche stellt, wird man als elitär gebrandmarkt. Totalitär ist die Herrschaft des Marketings und der auf den Massengeschmack zugeschnittenen Bücher, Der gute Roman lässt aufatmen. Lesen wir und lassen wir die anderen reden.
Am Donnerstag um elf Uhr abends setzte Van elf Zeilen ins Bulletin, die er mit Die Buchhändler unterzeichnete. Jeder sage, was er zu sagen hat, schrieb er, aber die Debatte sollte sachlich und mit Anstand geführt werden. Anonyme Beschimpfungen sind unwürdig. Monsieur Abéha, wenn Sie mehr sind als ein maskierter Miesmacher, stellen Sie sich vor, geben Sie sich zu erkennen. Unser Forum steht Ihnen offen. Lassen Sie uns diskutieren.
Das gegnerische Lager schlief nicht. Fünf Minuten später wurde das Forum überschwemmt. Mit Abéha unterzeichnete Zuschriften kamen zu Dutzenden. Sie alle enthielten wortwörtlich eine der aggressivsten Passagen, die als »freie Meinung« in Le Ponte abgedruckt worden waren. Oscar verfasste eine Antwort und versandte sie ebenfalls als Feuerstoß. Gehen wir schlafen, oder besser noch, lesen.
Am Freitag um sieben Uhr setzte Ivan noch eine Botschaft ins Bulletin, eine Art Appell. Es gibt das Virtuelle, und es gibt das Reale, schrieb er. Real ist die Buchhandlung, die Buchkäufe. An der Anzahl derjenigen, die zu uns kommen, und an den Verkaufszahlen ersehen wir, wie groß und wie verlässlich die Unterstützung ist, die Der gute Roman erfährt.
Am Freitag war es sehr voll in der Buchhandlung. Die Leute sagten etwas. Alle sagten im Wesentlichen das Gleiche: Wir sind da. Ein junger Mann pflanzte sich auf der Straße vor dem Schaufenster auf, er hielt eine Stange fest mit einem großen Schild, auf das er »Das Glück«geschrieben hatte. Er blieb den ganzen Vormittag lang dort stehen. Er hatte es nicht für nötig befunden, sich vorzustellen oder um Erlaubnis zu bitten. Eine Dame hatte ein großes Buch mit leeren Seiten mitgebracht. Wortlos schrieb sie eine erste Sympathiebekundung hinein und ließ es dann offen neben der Kasse liegen. Am Abend war es vollgeschrieben. Die Dame war von der allerdiskretesten Art – schon ergraut? Brillenträgerin?; nachher wusste niemand mehr etwas über sie zu sagen, so rasch war sie wieder verschwunden – und die erste Eintragung die längste:
»›[…] In Smyrna habe ich mir […] aus der Leihbücherei Eugène Suës Arthur entliehen. Man könnte kotzen, es gibt dafür keinen Namen. Man braucht das nur zu lesen, um von Erbarmen mit dem Geld, dem Erfolg, dem Publikum erfasst zu werden. Die Literatur ist brustkrank. Sie spuckt, sie geifert, sie trägt Zugpflaster, die sie mit pomadisiertem Taft bedeckt, und sie hat sich so sehr den Kopf gestriegelt, dass sie dabei alle Haare verloren hat. Es bedürfte eines Christus der Kunst, um diese Aussätzige zu heilen. […]‹ Flaubert. Brief an Louis Bouilhet, 14. November 1850.«
Um Mitternacht konnte Van im Bulletin verkünden: Verkaufsrekord in der Buchhandlung. Tausendeinhundertundzwei Bücher am heutigen Freitag, dem 18. Februar. Freunde, Ihr seid wunderbar.
Nachdem Abéhas Artikel erschienen war, änderte Francesca ihre Gewohnheiten, sie kaufte Le Ponte druckfrisch und filzte ihn dann eine Viertelstunde lang. Ihn lesen, nein, das konnte sie nicht mehr.
Am Samstag rief Van sie am späten Vormittag an. »Wenn Sie ausgehen, kaufen Sie auch Le Bigaro .«
»Sagen Sie bloß nicht, es geht schon wieder los!«
»Das habe ich nicht gesagt. Übrigens auch nicht, dass Eile bestünde.«
Auf der Seite »Meinungen« der Tageszeitung zog sich ein Debattenbeitrag über die gesamte Breite, er trug den Titel »Die Verachtung« und stammte vom Generaldirektor der Buchhandelskette VLAM. Die Sensationspresse hatte eine Schwäche für diesen Grantarroi, ehemals Mitglied der Sozialistischen Partei, der sich dann aber zum Liberalen gewandelt hatte und nun einer Vorliebe für Zigarren und schwere Motorräder frönte. »Es ist übertrieben, von Totalitarismus
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