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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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hatte er verstanden. Jetzt kam die schwere Artillerie.
    Unterzeichnet war der Artikel von Jean-Brice Abéha, Dozent für Politische Soziologie an der Universität Paris IV. »Im September wurde in Paris eine mit großzügigen Finanzmitteln ausgestattete Buchhandlung eröffnet, deren Inhaber sich recht unbescheiden aufs Banner geschrieben haben, nur große Romane zu verkaufen.« Ivans Augen jagten über die Zeilen. »Die Werbekampagne zur Eröffnung war sehr eindeutig. […] Niemand sah Anlass zur Sorge. Dabei ist dieses Unternehmen nicht mehr und nicht weniger als totalitär. Personen, die ihre Identität sorgfältig verheimlichen, maßen sich das Recht an, für andere und, schlimmer noch, für alle zu entscheiden, welche Romane wichtig sind, und alle anderen, weit zahlreicheren Bücher, die ihnen nicht zusagen, auszusortieren. […] Was soll das eigentlich heißen, guter Roman ? Wer sind diese Lageraufseher, die so unverschämt sind, einem Buch ihr Gütesiegel aufzukleben oder eben nicht? Wo stehen sie, von wo aus sprechen sie? Mit welchem Recht?«
    Der Artikel endete mit: »Wir wissen, wohin solche Listen führen. Das nächste Stadium ist die Säuberung. Es dauert nicht mehr lange bis zu den nächsten Bücherverbrennungen.«
    Van hob den Kopf und nahm wieder den Boulevard wahr, die Kinos, die Sonne hinter ihrem grauweißen Schleier und seinen eigenen Puls, der beschleunigt zu sein schien. »Wo stehen sie?« Ihm war, als höre er wieder die selbst ernannten Saint-Justs in Jeans, wie sie auf ihren Kisten standen und die Aktionskomitees der Siebzigerjahre anfeuerten, die Heftigkeit, mit der sie alles in Misskredit brachten, was ihnen fernstand, ihre lächerlichen Phrasen, ihr prinzipielles Misstrauen. Was zu viel ist, ist zu viel, dachte er. Und so viel zu viel hat nicht viel zu sagen.
    Er faltete die Buchbeilage zusammen und strich sich im Geiste das Gesicht glatt, bevor er die Buchhandlung betrat. Als er wieder in die schweigsame, intensive Atmosphäre eintauchte, war ihm einen kurzen Moment lang, als erwache er aus einem Albtraum. Doch nein, der Angriff war noch da, schwarz auf weiß in der Zeitung, die unter seinem Arm klemmte und als die seriöseste Frankreichs galt, und vielleicht war diese ideale Buchhandlung nur ein Traum.
    Er wollte zwei oder drei Stunden abwarten und über die geeignetsten Gegenmaßnahmen nachdenken, bevor er Francesca anrief. Er setzte sich hinter dem Kassentresen an einen der Bildschirme und suchte im Internet nach Informationen über Jean-Brice Abéha. Er fand nichts. Auch im Lehrkörper von Paris IV fand er niemanden dieses Namens.
    Folco, der Karikaturist, kam in die Buchhandlung, Le Ponte in der Hand. Er steuerte sofort auf Van zu. »Haben Sie das schon gesehen?« Van legte ihm die Hand auf den Arm. »Lassen Sie die Leute doch reden. Es gibt immer welche, die beim Anblick einer kaum erblühten Rose sofort Lust bekommen, auf ihr herumzutrampeln.«
    Doch fünf Minuten später rief Francesca an. Sie wolle ihm etwas zeigen. Sie sei an der Haltestelle des 63er-Busses, vor der Medizinischen Hochschule.
    Ivan war sich nicht sicher, dass es sich um die aktuelle Le Ponte handelte, denn Francesca las Zeitungen nie gleich nach deren Erscheinen. Sie hatte zur Presse ein zugleich distanzierteres und intensiveres Verhältnis als er. Sie erhielt zwar regelmäßig ein gutes Dutzend Publikationen, L’Idée , Le Ponte , Esprit , Le Débat , La NRF , Les Inrockuptibles , Le Matricule des anges , Critique , Art Presse , Les Cahiers du cinéma , Alternatives économiques , die sie zwar mit Verspätung und nur zu Teilen las, aber von A bis Z durchschaute. Anfallsweise verbrachte sie zwei oder drei Stunden damit, die Druckerzeugnisse, die sich angesammelt hatten, nach rascher Prüfung von dem großen Weidenkorb, in dem sie lagerten, in den Korb für Kaminholz umzufüllen, der immer am Kamin ihres Arbeitszimmers in der Rue Condé bereitstand.
    Van sah sie tatsächlich auf der überdachten Bank an der Haltestelle des 63ers sitzen. Sie stand auf und ging ihm entgegen.
    »Haben Sie es schon gesehen?«, fragte auch sie.
    »Ja«, sagte Van. »Darauf mussten wir gefasst sein. Immer wacker, die guten alten Linken. Und was ihnen nicht in den Kram passt, bezeichnen sie als faschistisch. Aber wie kommt es, dass Sie Le Ponte noch am selben Tag gelesen haben?«
    »Man hat ihn mir vor die Nase gehalten.«
    »Vor die Nase?«
    »Haben Sie es denn nicht gesehen?«
    Sie drehte Van am Arm halb herum und führte ihn zur

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