Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
man sie mittels Kleinanzeigen rekrutiert.«
Im Februar stellte sich heraus, dass diese Pseudokunden die bestellten Bücher nicht abholten. Man rief die Nummern an, die sie angegeben hatten, immer Handynummern. Und immer geriet man an den Falschen und störte jemanden, der gar nicht verstand, worum es ging. Der gute Roman blieb auf den Büchern, die zum Teil schwer zu beschaffen gewesen waren, sitzen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als Anzahlungen zu verlangen. Daraufhin tauchten diese unerfreulichen Kunden deutlich seltener auf und blieben schließlich ganz aus.
Zugleich gab es im Forum, das Der gute Roman im Netz unterhielt, zunehmend Zuschriften, deren Ton sich von den früheren stark unterschied. Milde gesagt. Einige gaben sich vage fundiert kritisch: Dieser so genannte Gute Roman ist der Gipfel des Snobismus. Das spießigste Buchsortiment der Welt. Doch die meisten waren schlicht und einfach beleidigend: Ihr seid ein Haufen Reaktionäre! Und wenn ich Dan Brown nun mal toll finde? Ihr baut einfach Mist, und das kann nur schiefgehen.
Es gab auch Drohungen: Wir schneiden euch die Kehle durch, ihr arroganten Schnösel! An die Laterne mit euch Faschos!
Das wäre nicht schlimm gewesen, doch diese Zuschriften kamen zu Hunderten, zehn oder zwanzig Mal im genau gleichen Wortlaut, und lösten – ebenfalls zu Hunderten – Protestzuschriften aus, sodass diese beiden gegenläufigen Ströme das Netz und die Mailboxen verstopften, den Bestell- und Abonnementverkehr behinderten und Ivan viel Zeit kosteten, die er lieber anders genutzt hätte.
Van hatte versucht, diese Umtriebe, die er mittlerweile als organisierte Bösartigkeit betrachtete, vor Francesca zu verheimlichen. Die systematischen Scheinbestellungen hatte er dank Oscars Unterstützung und glücklicher Umstände vor ihr verbergen können. Doch die vergifteten Pfeile im Internet waren eine andere Sache. Francesca, die sich tagsüber möglichst selten in der Buchhandlung zeigte, verbrachte viel Zeit vor ihrem Computer, denn sie war für die Kontrolle der Bestellvorgänge zuständig, was sie viele Stunden kostete, für die eintausendsiebenhundert Abonnements und die fast täglich eingehenden Vorschläge für Sortimentserweiterungen, die sie telefonisch an die Komiteemitglieder übermittelte. Sie bemerkte diese Veränderung sofort.
»Was ist los?«, fragte sie Ivan Ende Januar. »Hat sich der Wind gedreht?«
Anfang Februar erhielt sie einen Ansatz zu einer Antwort: »Irgendwas ist los.«
31
A m Donnerstag, dem 17. Februar, aß Ivan auf die Schnelle etwas im Comptoir , einer Kneipe am Carrefour de l’Odéon, wo ihm jedes Mal ein Satz von Echenoz über das Paradox in den Sinn kam, dass die Cafés und ihre Terrassen in dieser windigen, recht hässlichen und ziemlich abgasverseuchten Ecke von Paris immer voll sind. Leider hatte er nicht die Zeit, diesen Satz zu suchen, um ihn sich wörtlich zitieren zu können, denn eigentlich zählt in der Literatur weniger die Idee als die Form, die man ihr gibt. Auf dem Rückweg in die Buchhandlung kaufte er in der Nähe der Metrostation, in dem Kiosk unter Dantons ausgestrecktem Bronzearm, Le Ponte . Schon seit sehr langer Zeit kam er nicht mehr täglich zum Zeitunglesen. Tageszeitungen kaufte er einzeln, einmal in der Woche, an dem Tag, an dem sie mit Buchbeilage erschienen, und die Buchseiten der Wochenzeitungen las er im Internet – brummelnd und zappelnd, wobei er immer wieder vom Stuhl aufsprang und immer bestätigt in der schönen Überzeugung, dass Der gute Roman insgesamt eine feine Sache sei. Notgedrungen hatte er Livres Hebdo abonniert und las sie so gewissenhaft, wie es sich für einen Buchhändler gehört. Eigentlich kannte er nur eine Zeitschrift, deren Literaturteil er uneingeschränkt gut fand, 303 , die vierteljährlich in der Region »Pays de la Loire« erschien.
Im Gehen zog er aus dem Papierbündel, das ihm der Kioskbesitzer in die Hand gedrückt hatte, die wenigen Seiten der Buchbeilage heraus – wozu sie anscheinend auch bestimmt war, denn sie bildete praktischerweise eine dünne Zeitung in der Zeitung – und legte den Rest, wie immer, auf eine Bank.
Noch bevor er die Rue Dupuytren erreicht hatte, blieb er abrupt stehen und starrte gebannt in die Zeitung. Ort, Zeit – kurzum, alles, was nicht Der gute Roman war, hatte der vier Spalten überspannende Titel auf Seite zwei vorübergehend aus seinem Bewusstsein gelöscht: »Die Kommissare für literarische Qualität«. Am Ende der ersten Spalte
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