Der Zauber des Engels
Laura dieses Mal allein gekommen war.
Heute waren die schwarzen Vorhänge an den Fenstern zugezogen. Nur durch das mittlere drang etwas Tageslicht, das genau auf die Staffelei schien, auf die Russell ein großes Stück Glas gestellt hatte. Darauf hatte er mit Bienenwachs die farbigen Glasstücke geklebt, die das Marienfenster ergeben sollten. Letzte Woche hatte Laura ihm zugesehen, wie er die Formen ausgeschnitten und die Kanten vorsichtig abgeschliffen hatte. Heute zeigte er ihr, wie er die Rückseite der Glasscheibe mit Flammruß bemalt hatte, um die Stellen zu markieren, auf die das Blei aufgetragen werden sollte. Jetzt, als das Licht von hinten durch die Glasscheibe fiel, zeichnete er Einzelheiten auf die farbigen Formen; dazu hatte er die Originalskizze neben sich gelegt.
Laura saß im Halbdunkel, sah ihm bei der Arbeit zu und redete über alles, was ihr in den Sinn kam. Ihr Vater nahm manchmal im hinteren Teil der Kirche hinter einem Wandschirm die Beichte ab; eine weitere »Papisten-Mode«, die der Briefschreiber bemängelte. Laura selbst hatte diese Möglichkeit nie genutzt. Es gab nun Dinge, die sie ihrem Vater nicht erzählen wollte; und hier im Halbdunkel bei Philip, dessen Gestalt sich schemenhaft gegen das schwache Licht abzeichnete, malte sie sich aus, wie das sein würde. Wie leicht hatte man zu viel gesagt. Und Worte, die einmal ausgesprochen waren, konnte man nicht wieder zurücknehmen.
»Der Bischof könnte Papa die Schuld geben und ihn dazu auffordern, Dinge zu verändern«, vertraute sie ihm an. »Papa fürchtet sich vor der Schande.«
Mr. Russell gab keine Antwort. Daher erhob Laura sich von dem unbequemen Holzstuhl und ging näher zu ihm, um besser sehen zu können, was er machte. Er arbeitete an den Gesichtern, die bisher nur Kreise aus weiß getöntem Glas waren. Mit einem ganz dünnen Pinsel zeichnete er das Auge von Maria vor, nahm dann einen dickeren Pinsel aus dem Glas, tauchte ihn in die Farbe und zeichnete eine Augenbraue. Fasziniert sah Laura zu, wie unter seinen Händen nach und nach das ganze Gesicht entstand. Aber es war noch unfertig, ohne jegliche Tiefen oder Strukturen.
»Die braune Farbe muss jetzt erst trocknen«, erklärte er und wischte den Pinsel an einem Lappen ab, der aus der Hosentasche seines Overalls hing. Er nahm noch einmal den feinen Pinsel, mit einer raschen Bewegung seiner langen schmalen Finger; wie ein Fischreiher, den sie einst im Park beim Fischen gesehen hatten. »Sobald ich mit den Gesichtern fertig bin, fange ich mit den Linien des Gewands an. Danach kommen die Bordüren an die Reihe. Morgen werde ich die Haut zart mattieren. Wenn alles trocken ist, tüpfele ich sie mit einem Pinsel, um die Textur der Haut herauszubringen.«
»Und die Haare?«
»Silbernitrat. Es wird beim Brennen golden. Das kommt ganz zuletzt an die Reihe.«
»Das dauert ja Ewigkeiten! Können Sie nicht jemanden um Hilfe bitten, um zum Beispiel die Ränder für Sie zu malen?«
»Doch, natürlich.« Er nickte und zeichnete mit dem feinen Pinsel den Umriss des Kindermunds. »Aber das tue ich nicht gern.«
Laura seufzte ungeduldig. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er sie kaum ansah. Sie ging zurück zu ihrem Stuhl. Dabei achtete sie sorgsam darauf, ihre Röcke hochzuhalten, damit sie nicht über die Farbdosen streiften.
»Das langweilt Sie sicher«, sagte er nach einer Weile.
»Überhaupt nicht«, protestierte sie. »Aber ich muss jetzt gehen. Ich habe Mama versprochen, sie ins Waisenhaus zu begleiten.« Sie wollten mit Ida Cooper deren Brüder und Schwestern besuchen.
»Hm.« Stirnrunzelnd betrachtete er das Gesicht des Babys, ließ den Blick von der Zeichnung zum Glas schweifen.
Sie stand auf, schüttelte ihren Schal aus und zog ihn um sich. Als sie sich verabschiedete, legte er endlich den Pinsel aus der Hand und drehte sich zu ihr um. Lächelnd wischte er sich die Finger an dem schmutzigen Lappen ab. Er sieht heute aus wie ein gewöhnlicher Arbeiter, dachte sie. Es irritierte sie, dass er ihre Stimmung nicht bemerkte.
Als sie mit schnellen Schritten den Platz überquerte, bereute sie ihre Gedanken bereits und machte sich Vorwürfe, ihn aus dem Blickwinkel ihrer Eltern betrachtet zu haben. Und das nur, weil sie gereizt war. Aber sie konnte sich ihre Gereiztheit nicht erklären.
Sie genoss das Zusammensein mit ihm immer noch. Gleichwohl wurde ihr zunehmend bewusst, dass er, noch während sie sprachen, mit den Gedanken nicht bei ihr war.
Was konnte daran falsch sein?
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