Der Zauber des Engels
eine große Rolle gespielt haben, hatte er es oft schwer. Manchmal kam es sogar zu Prügeleien mit den anderen Jungs. Das war der Grund, weshalb wir Freunde wurden.«
»Du wurdest also auch gemobbt?«
»Nicht lange. Ich habe schnell gelernt, mich zu wehren. Ich war ziemlich gut in der Schule und habe daher den anderen Jungs bei den Prüfungen geholfen. Ben und ich waren ungewöhnlich sensible Teenager. Aber wenn er sich aufregte, wirkte er oft arrogant, was die anderen abstieß.«
Für mich war die Freundschaft zwischen den beiden immer noch schwer nachvollziehbar. Aber dann erklärte Michael: »Wir wurden immer wieder zusammengeworfen. Wir wohnten damals beide im Magdalen House und teilten uns ein Zimmer. Bei einem Sportfest lernten sich unsere Eltern kennen, und dann wurde ich zum ersten Mal zu Ben eingeladen. Das war der Anfang von allem.«
So langsam begann ich zu verstehen. Ben hatte die Freundschaft nicht gesucht – sie war einfach passiert. Und doch schienen sie sich sehr nahe gewesen zu sein – wie Brüder, die sich zwar stritten, aber trotzdem fest zusammenhielten.
Dann sagte Michael etwas, das mich völlig erschütterte. »Ich bin nicht sicher, ob er begeistert ist, wenn ich dir das erzähle. Aber manchmal habe ich seine Geschichte, dass die anderen Jungs ihn verprügelt haben, nicht geglaubt.«
»Wie meinst du das?«, stammelte ich.
»Er hatte Schnittwunden am Oberschenkel, Fran. Du glaubst doch nicht, dass das jemand Fremdes getan hat.«
»Wie schrecklich!« Ich versuchte, das zu verarbeiten. »Der arme Ben.« Dann schwiegen wir eine Zeit lang.
»Danach kamen wir beide nach London, sahen uns also häufig. Ich habe an der Universität Englisch studiert, und er hatte ein Stipendium am Royal College of Music.«
»Da war ich auch«, sagte ich. »Aber ich habe ihn dort nie gesehen.« Wahrscheinlich war er mir einige Semester voraus gewesen.
»Ben hat immer sehr hart gearbeitet, aber ab und zu war er auch völlig frustriert«, fuhr Michael fort. »Dann mussten wir, das heißt seine Familie und ich, ihn wieder aufrichten. Er leidet unter Versagensängsten, fürchtet, die Leute könnten ihn auslachen oder Mitleid mit ihm haben. Häufig gibt er einfach auf und schiebt die Schuld auf jemand anders«, erklärte Michael. »Es ist, als würde er versuchen, eine nie geheilte Wunde in seinem Innern zu schützen. Wenn es schlecht läuft, kneift er. Aber wenn es gut läuft, gerät er in Ekstase und ist zu allem fähig.«
Ich dachte daran, wie er den Chor dirigierte, an sein nicht zu leugnendes Talent, dann daran, wie frustriert er nach dem Gespräch über die Zukunft seines Chors gewesen war. »Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, sagte ich langsam.
»Tja, das ist es wohl im Wesentlichen.« Michael schüttelte nachdenklich den Kopf. »Er sehnt sich nach den Früchten des Erfolgs, nach Anerkennung. Aber irgendwie fehlt ihm das nötige Selbstbewusstsein, es zu erreichen. Und dann manipuliert er andere Menschen, um das zu bekommen, was er will. Ich glaube nicht, dass er das böswillig tut, aber er tut es. Und dann geht alles schief. So war es auch bei Bea.«
»Bea. Die Frau, die du neulich abends auch erwähnt hast. Wer ist sie?«
»Beatrix Claybourne.«
Ich erinnerte mich an die elegante Handschrift auf Bens Notenblatt, an das gerahmte Plakat in der Diele.
»Hat er dir von ihr erzählt?« Michael sah mich an. »Sie ist ebenfalls Pianistin, und zwar eine ganz ausgezeichnete. Er war auf dem College eine Zeit lang mit ihr zusammen. Es war sogar schon die Rede davon, dass sie sich verloben würden. Aber dann wurde schnell klar, dass sie ihm überlegen war. Bei ihr lief alles perfekt, sie gewann einen Preis nach dem anderen, wurde von den besten Lehrern unterrichtet. Irgendwann konnte sie seine Eifersuchtstiraden einfach nicht mehr ertragen, und sie haben sich getrennt.«
Ich starrte ihn ungläubig an, bis mir einfiel, dass Ben mal was über Ninas Erfolg gesagt hatte. Auch da hatten seine Augen vor Eifersucht nur so gesprüht.
»Du hast gesagt, er würde Menschen benutzen«, flüsterte ich. Sicher würde Ben das nie zugeben, aber offensichtlich hoffte er, als Ninas musikalischer Partner an ihrem Erfolg teilhaben zu können.
»Ja«, antwortete Michael leise.
»Du hast ihn mit Nina bekannt gemacht, oder?«
Er nickte zerknirscht.
»Ich habe sie vor einem Jahr bei einem Konzert getroffen, danach sind wir eine Weile zusammen gewesen. Ich war superglücklich. Und dann hat sie Ben kennengelernt. Ihr Lehrer
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