Der Zauber des Engels
spät.
Ich konnte in dieser Nacht nicht bei Ben bleiben und so tun, als sei nichts gewesen. Als ich quer über den Platz nach Hause ging, überlegte ich, wie ich Zac alles erklären sollte.
Am Ende sagte ich ihm die Wahrheit. »Ich glaube, es war nur ein blöder Scherz«, sagte ich und merkte, dass ich Ben verteidigte.
»Sehr spaßig«, murmelte Zac und drehte die Stücke in den Händen. Er sah mich nicht an, sondern lief sofort los, um die Augen an ihren Platz zu legen. Mir war klar, dass er mir ein wenig die Schuld an allem gab. Und ich akzeptierte es.
Dem Zufall, dass ich Michael zwei Tage später auf einer Dinnerparty traf, verdankte ich, dass ich endlich begriff.
Ich hatte Amber den Laden überlassen und einen Spaziergang zum St. James’s Park gemacht, um mal was anderes zu sehen. Es war einer dieser klaren kalten Herbsttage, an denen der Winter schon in der Luft liegt. Ich zog meinen Mantel enger um mich, während ich einigen japanischen Touristen zusah, wie sie Enten auf dem See fotografierten.
Auf einer Bank in der Nähe saß ein Mann. Er war über eine Zeitung gebeugt und aß ein Sandwich. Erst als er die Seite umschlug und aufblickte, erkannte ich ihn.
»Hallo, Michael! Heute kein Powerlunch mit irgendwelchen Diplomaten?«
Er lachte. »Ich glaube, du hast ziemlich romantische Vorstellungen von dem, was ich den ganzen Tag so treibe. Glaub mir, ich bin nur ein kleiner Bürohengst.«
Trotz des strahlenden Sonnenlichts wirkte er blass und müde.
»Hast du Zeit für einen Kaffee?«, fragte ich spontan.
»Gerne.« Wir gingen hinüber zum Parkcafé, setzten uns an einen Tisch am See und wärmten uns die Hände an den Kaffeebechern. Ich befragte ihn ein bisschen zu seiner Arbeit, wir unterhielten uns eine Zeit lang, dann kamen wir unausweichlich auf Ben zu sprechen.
»Das an dem Abend neulich tut mir leid.« Er tupfte sich die Oberlippe mit einem blütenweißen Taschentuch ab. »Du hast sicher gemerkt, dass Nina und ich ziemlich verkracht waren.«
»Ah.« Es erinnerte mich entfernt an Dad, wie Michael sich davor drücken wollte, über seine Gefühle zu sprechen.
»Ja.« Er betrachtete sein Taschentuch, dann steckte er es umständlich in seine Hosentasche. »Ich mag Nina sehr gern. Aber das habe ich schon gesagt, oder?«
»Man sieht es auch«, antwortete ich leise.
»Dann ist es also so offensichtlich?« Er lächelte verlegen.
»Ja.«
»Ich dachte … sie würde mich auch mögen.«
»Aber sie steht immer noch mehr auf Ben?«
»Ja«, antwortete er. Seine Gesichtszüge drohten ihm zu entgleiten.
»Und er … steht auf mich.«
»Tja. Weißt du, vielleicht sollte ich das jetzt nicht sagen, aber er ist bei Frauen immer so. So geschickt, meine ich.« Er lachte leise.
»Verstehe.« Mir war auf einmal so kalt, dass ich nicht länger sitzen bleiben konnte. »Sollen wir noch ein Stück spazieren gehen?«
»Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe«, sagte Michael und stand ebenfalls auf.
»Nein, das hast du nicht.« Einerseits wusste ich, dass ich das, was er sagen würde, nicht hören sollte, dass es ein Verrat an Ben war. Ich sollte ihm die Chance geben, mir alles selbst zu erzählen. Aber ich konnte nicht anders.
»Ben ist ein Glückspilz, immer schon gewesen. Aber du musst wissen, dass er die Menschen benutzt, Fran.«
Ich war schockiert. »Ich dachte, er wäre dein Freund?«
»Das ist er auch. Ich war immer für ihn da, und das wird auch immer so bleiben. Ich habe ihm schon oft geholfen. In der Schule habe ich für ihn gelogen, wenn er für irgendwas ein Alibi brauchte. Einmal, in der zehnten Klasse, ist er mit einem Mädchen, das er gerade kennengelernt hatte, zu einem Ball an ein College in Oxford gefahren. Er hat sich einfach abends unerlaubt aus dem Internat geschlichen. Ich habe ihn gedeckt.«
»Warum hast du das getan?«
»Weil ich ihn gernhatte. Er war für mich so etwas wie ein kleiner Bruder. Wirkte immer jünger als ich, dabei ist er in Wirklichkeit drei Monate älter. Und ich mochte seine Eltern und seine Schwester. Sie haben sich rührend um mich gekümmert.«
»Aber wenn du dich doch wie ein großer Bruder gefühlt hast, hättest du doch verantwortlicher handeln müssen. Ihn davon abhalten, solche Dinge zu tun.«
Michael seufzte. »Vielleicht hast du recht. Aber er hat mir irgendwie immer leidgetan. Ben ist ein außergewöhnlich begabter Musiker; für andere Fächer wie Sport hat er sich dagegen nie interessiert. Und da wir an einer Schule waren, in der Rugby und Kricket
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