Der Zauber des Engels
wohl fühle. Und nicht ständig darauf achten muss, welche Worte mir über die Lippen kommen … wie bei Marie.«
Und dennoch nimmst du mich kaum wahr, nicht richtig jedenfalls. Du siehst mich nicht so, wie du sie siehst. Du malst mich nicht, wie du sie malst. Die Gedanken schrien in ihr, aber Laura wagte nicht, sie laut auszusprechen. Um ihre Verunsicherung zu verbergen, nahm sie ein kleines Vögelchen aus Holz von einem Regalbrett neben der Tür und umschloss es schützend mit den Händen. So wollte sie sich gern fühlen: behütet und umsorgt und nicht verunsichert und durcheinander.
Als sie sich etwas beruhigt hatte, sagte sie: »Philip, Sie müssen lernen, Marie zu vergessen. Nicht ganz und gar, das meine ich gar nicht. Sie ist Ihre Frau und die Mutter Ihres Kindes. Aber Sie müssen lernen, mit dem Verlust fertigzuwerden. Es ist über ein Jahr her. Sie wird nicht zu Ihnen zurückkehren. Sie werden verrückt, wenn Sie das nicht akzeptieren. Denken Sie an den Schaden, den Sie bei Ihrem Sohn anrichten.«
Sein Gesicht war wie versteinert. Einen Moment lang fürchtete sie, sich zu weit vorgewagt zu haben.
»Ich kann sie nicht vergessen. Genauso wenig wie Ihre Familie Caroline vergessen kann.«
»Das ist etwas ganz anderes.« Laura seufzte. »Caroline ist tot. Wir werden sie in diesem Leben nie wiedersehen.«
»Wenigstens starb sie im besten Wissen um Ihre gegenseitige Liebe zueinander!«, schrie er. »Diese Genugtuung bleibt Ihnen!«
»Und deshalb schmerzt uns ihr Verlust umso mehr!« Sie erhob nun ebenfalls die Stimme. »Nein, so habe ich das nicht gemeint«, fügte sie hastig hinzu, als sie sein verzweifeltes Gesicht sah. »Sie können unseren und Ihren Verlust nicht miteinander vergleichen. Ich weiß, dass es unsere Pflicht ist, dankbar zu sein für das, was wir haben, und aus dem, was uns geschenkt worden ist, das Beste zu machen. Und ich bin sicher, dass unser Engel uns dabei hilft. Sobald er fertig ist.«
»Er ist fertig.« Philip ging wieder zur Staffelei, von der Maries Gesicht auf sie beide herabschaute.
»Was haben Sie gesagt?«
»Ich wollte es Ihnen schon früher sagen. Ihr Fenster ist fertig. Wenn Sie möchten, zeige ich es Ihnen.«
»Philip, das ist ja fantastisch!«
»Ich dachte mir, dass Sie sich freuen würden.« Er nahm das Bild von der Staffelei und legte es in eine Schublade. Dann nahm er langsam und vorsichtig die anderen Porträts seiner Frau und verstaute sie in einem Schrank. Laura sah fasziniert zu.
Er schloss den Schrank und drehte sich lächelnd zu ihr um. Es war ein zögerliches, unglückliches Lächeln, so als fiele es ihm sehr schwer, sich von dem Zauber zu befreien, den Marie über ihn gelegt hatte.
31. KAPITEL
Und es ward ausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas … und seine Engel wurden auch dahin geworfen.
Offenbarung des Johannes 12,9
Ich hätte die ganze Geschichte nicht mitbekommen, wenn nicht Jo am 28. Oktober angerufen und aufgelöst etwas von einem Zeitungsartikel gesagt hätte. Nachdem ich ihr versprochen hatte, sie zurückzurufen, legte ich auf und rannte los, um mir eine Ausgabe zu kaufen. Der Bericht stand auf Seite acht – ich breitete die Zeitung auf dem Tisch aus, um ihn zu lesen. Ein wenig schmeichelhaftes Foto von Jo, die gerade aus dem Heim kam, und das gestellte Foto eines eleganten Paars, das, mit riesigen Hüten auf dem Kopf, durch einen Konfettiregen schritt. »Parlamentarier – Liebesnest im Mädchenheim«, lautete die Schlagzeile.
»Du meine Güte«, flüsterte ich. Es kam noch schlimmer. »Wieso setzt er für dieses Mauerblümchen alles aufs Spiel?«, wurde eine Freundin von Mrs. Sutherland zitiert. »Eine Kollegin beschreibt Miss Pryde als ›ernst und zurückhaltend. Ein echter Gutmensch. Ganz bestimmt nicht die Person, der man so etwas zutrauen würde …‹«
Als ich Jo entsetzt zurückrief, sprang der Anrufbeantworter mit der üblichen Nachricht an. »Jo, ich bin’s. Fran«, begann ich, dann wurde ich von einer Männerstimme unterbrochen. Sie kam mir bekannt vor. »Fran? Hier ist Kevin Pryde. Ich vermute, Sie haben die Zeitung gelesen. Wir befinden uns in einem regelrechten Belagerungszustand. Journalisten, Fotografen, die ganze verdammte Meute. Jo unterhält sich gerade mit ihrer Mutter. Wollen Sie sie sprechen?«
Ich war froh, dass Jos Eltern bei ihr waren. Als Anwalt hatte Kevin Pryde reichlich Erfahrung mit den Medien. Jo war zu genervt, um ans Telefon zu kommen, daher vereinbarte ich
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