Der Zauber des Engels
versicherte Miss Badcoe, sie habe mit den Anschlägen auf das Kircheneigentum nichts zu tun, nein, so etwas verabscheue sie. Aber die Akte hätten sie auf eine Idee gebracht, ihren eigenen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. In anonymen Briefen konnte sie ihrer Wut und ihrer Enttäuschung Luft machen, ohne dass jemand erfuhr, wer dahintersteckte. Aber nun würde es jeder erfahren, schloss sie bedrückt, da könne sie ebenso gut sterben.
»Nein, nein, so schlimm ist das nicht«, versicherte Laura ihr leise. Sie fand, dass die Frau nun genug gelitten hatte. »Wenn Polly zurückkommt, muss ich gehen, aber bitte machen Sie sich keine Sorgen. Ich muss es natürlich meinen Eltern sagen, aber ich werde sie bitten, Ihr Geheimnis für sich zu behalten. Ich weiß, dass sie Ihnen außer Mitleid nichts entgegenbringen werden. Aber sie müssen mir versprechen, noch einen einzigen Brief zu schreiben: eine Entschuldigung an meinen Vater. Und ich möchte, dass sie ihn darin um etwas bitten.«
Miss Badcoe hatte ihre kranken Augen ängstlich auf Laura gerichtet.
»Sie müssen ihn um einen Platz in einem der Armenhäuser bitten. Hier dürfen Sie nicht länger bleiben.«
Miss Badcoe lag eine Weile schweigend da. Dann sagte sie leise: »Ich werde tun, was Sie verlangen.«
Polly kehrte zurück mit dem Versprechen, dass der Arzt bald komme, und willigte ein, solange bei Miss Badcoe zu bleiben. Laura drückte der Kranken die Hand und ging. Trotz ihrer Eile stieg sie vorsichtig durch das Treppenhaus. In ihrer Hast nahm sie ihre Umgebung kaum wahr. Sie war sich sicher, dass ihre Lösung für Miss Badcoes Problem ihren Eltern gefallen würde. Sie würden erleichtert sein, dass der Verfasser der anonymen Briefe endlich gefunden war, und froh, dass diese kranke, sonst so respektierte alte Frau nicht weiter erniedrigt wurde. Es stand auf einem ganz anderen Blatt, ob Laura ihr einen der begehrten Plätze im Armenhaus besorgen konnte; aber sie würde ihren Vater bitten, die Verantwortlichen zu beeinflussen.
Um zehn Uhr war sie in Russells Haus in der Lupus Street erwartet worden. Stattdessen war es bereits halb zwölf, als sie dort ankam, außer Atem, und ihr war schlecht vor Hunger. Wenn sie doch nur Polly nicht gesagt hätte, ihre Eltern sollten mit dem Essen nicht warten.
Ein mageres Mädchen in Schwesterntracht empfing sie an der Haustür und führte sie in einen großen, hellen Salon. Rasch wurde Laura klar, dass es das Kindermädchen von Philips Sohn war und der kleine Junge somit der geheimnisvolle Gast, den Philip ihr angekündigt hatte. Er kniete auf dem Fußboden, sein dunkler Haarschopf war gleich neben Philips rotgoldenem zu sehen. Beide waren damit beschäftigt, Löwen und Tiger zu zeichnen. Das Kindermädchen zog sich zurück und erklärte, sie wolle das Essen für den Jungen vorbereiten.
»Laura.« Philip erhob sich steif und nahm ihre Hände.
»Es tut mir leid, dass ich so spät komme«, sagte sie. »Ich konnte leider keine Nachricht mehr schicken.« Sie berichtete ihm von Miss Badcoes Erkrankung.
»Jetzt sind Sie ja hier, Laura, das ist alles, was zählt. Das ist mein Sohn John.«
»Hallo.« Laura musterte die glatte olivfarbene Haut des Jungen, seine großen schwarzen Augen und die perfekt geschwungenen Lippen. Sie schluckte. Er sah seiner Mutter wirklich verblüffend ähnlich.
John schaute sie aus seinen großen Augen an. »Mein Papa malt mir einen Nelefant, nicht wahr, Papa?« Seine Stimme war fest, die Worte sorgfältig formuliert, und trotzdem machte er einen ängstlichen Eindruck, sodass sie schnell versicherte: »Natürlich tut er das. Philip, wir möchten beide, dass Sie einen Elefanten malen.«
Als schließlich ein seltsam aussehender Dickhäuter mit großen Stoßzähnen und hervortretenden Augen über das Papier galoppierte, nahm das Kindermädchen den Jungen mit in die Küche. Danach sollte er etwas schlafen, bevor er mit seinem Vater spazieren gehen durfte.
»Er war sehr brav«, flüsterte Philip und zündete sich eine Pfeife an, was Laura bei ihm noch nie gesehen hatte. »Das ist nicht immer so. Ich glaube, er mag Sie.«
»Meinen Sie?« Sie freute sich sehr.
»Ja, das meine ich. Ich habe ihm versprochen, ihm die Eisenbahn an Victoria Station zu zeigen und anschließend die Pferde der Königin auf dem Königlichen Gestüt. Danach bringt das Mädchen ihn zu seiner Mutter am Eaton Place zurück. Haben Sie Lust, uns zu begleiten?«
Laura sagte sofort zu. Wie sehr er sich seit dem Tag im Atelier verändert
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