Der Zauber des Engels
Vermögen der Kirche und ihrem geliebten Neffen Stuart Jefferies (mütterlicherseits) hinterlassen, aber offenbar nichts dieser verarmten Cousine. Natürlich kannte man den Hintergrund nicht – wer sich mit wem zerstritten hatte und ob Mrs. Fotherington die näheren Umstände gekannt hatte, unter denen die Tochter der Schwester ihres Vaters lebte –, aber trotzdem war das alles eine große Ungerechtigkeit, fand Laura.
Auf der Suche nach Zucker für den Tee griff sie nach einem der schmuddeligen Vorratsbehälter. »Salz«, »Gries«, »Zucker« stand in sorgfältig gemalten Lettern auf den Aufklebern. Das S in Salz war wie eine kleine Harfe gezeichnet. Irgendwas daran irritierte sie. Sie hatte das doch schon mal gesehen … in einem Brief! Einem Brief, den sie vom Schreibtisch ihres Vaters genommen hatte. S wie in schmoren. In der Hölle schmoren.
Plötzlich dämmerte es ihr. Miss Badcoe war die geheimnisvolle Briefeschreiberin. Das verzweifelte Gesicht ihrer Mutter tauchte im Geiste vor ihr auf, sie sah die Niedergeschlagenheit in den Augen ihres Vaters. Einen Moment lang war sie so wütend, dass sie Miss Badcoe den heißen Tee am liebsten in den Schoß gegossen hätte. Dann wurde das Bild in ihrem Kopf klarer, und sie zwang sich, dem Häufchen Elend vor ihren Augen wieder Mitleid entgegenzubringen. Hier lag eine alte Frau, die niemanden hatte, der sie liebte, niemanden, den sie lieben konnte; sie würde unbeachtet und unbeweint sterben, wenn sie, Laura Brownlow, nichts dagegen tat.
Sie kniete sich neben das Bett und half Miss Badcoe, an ihrem Tee zu nippen. Hinter ihr wartete Polly, dass das Feuer zu brennen begann, und hängte einen Topf Brühe zum Aufwärmen darüber. Danach schickte Laura sie los, um Mr. Murray den Kessel zurückzubringen. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, sagte sie: »Miss Badcoe, Sie sind diejenige, die meinem Vater diese gemeinen Briefe schreibt, habe ich recht?«
Die kranke Frau gab keinen Laut von sich; sie presste fest die Lippen zusammen und starrte vor sich hin. Laura nahm ihr die Tasse aus den Händen. »Miss Badcoe, ich weiß, dass Sie es sind, und ich werde es meinem Vater sagen. Er wird es Mr. Bond erzählen, und bald werden es alle wissen.«
Sie wartete auf Miss Badcoes Reaktion. Schließlich brach die Frau zusammen und fing an zu weinen.
»Was ist denn los?«, fragte Polly, als sie ins Zimmer zurückkam. Ein Blick auf Lauras ernstes Gesicht ließ sie zurückzucken. Laura bat sie, einen Arzt zu holen.
»Miss Badcoe, warum haben Sie das getan?«, zischte Laura. »Wissen Sie, welch großes Leid Sie verursacht haben?«
Zwischen Tränen und Hustenanfällen legte die alte Dame ein Geständnis ab.
Seit Jahr und Tag hatte Ivy Badcoe immer ihre Pflicht getan. Als ihre Eltern krank geworden waren, hatte sie sie bis zu deren Tod gepflegt und dadurch jede Aussicht auf eine Ehe und eine eigene Familie vertan. Ihr Vater hatte sein Geld schlecht verwaltet, und Ivy war praktisch mit nichts außer ihrem Stolz zurückgeblieben. Jeden Sonntag hatte sie den Gottesdienst besucht, ihre Münze in den Opferstock geworfen, ihre Pflichten erfüllt. Und dennoch hatte man sie nie zur Kenntnis genommen, sich nie um sie gekümmert; denn ihre steife, distanzierte Art hatte alle abgeschreckt. Sie war eine von denen, für die es in der Gesellschaft keine andere Rolle zu geben schien, außer der, den anderen zu dienen. Sie selbst schien kein Recht auf irgendwas zu haben – weder auf Liebe noch auf Freundschaft oder auch nur Aufmerksamkeit. Sie hatte zugesehen, wie die Armen von der Kirche Almosen erhielten, hatte selbst, soviel sie konnte, dazu beigesteuert und nie daran gedacht, dass sie ebenfalls um Hilfe hätte bitten können. Nein, ihre Eltern hätten sich im Grabe umgedreht.
Sie musste irritiert zugesehen haben, wie Reverend Brownlow ein Vermögen für die Kirche ausgab: für schöne neue Altartücher in unterschiedlichen Ausführungen für das gesamte Kirchenjahr, für goldene Kerzenhalter, ein mit Juwelen besetztes Vortragekreuz. Ihre Augen seien angesichts dieser ganzen Pracht geblendet gewesen, berichtete sie Laura, aber im Laufe der Jahre, als ihre Glieder immer stärker zu schmerzen begonnen hatten, habe sie Angst bekommen, und der Widerstand in ihr sei gewachsen. Als dann auch noch Sarah Fotherington starb und einen großen Teil ihres Vermögens für ein Fenster vermachte und nichts für ihre verarmte Cousine Ivy, sei in ihrem Herzen etwas zerbrochen.
Auf Lauras Nachfragen
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