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Der Zauber des Engels

Der Zauber des Engels

Titel: Der Zauber des Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Hore
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hatte. Er schien plötzlich so besorgt um sie, bemühte sich so, ihr zu gefallen.
    Sie aßen kalte Fleischpastete, während John schlief, und um halb zwei brachen sie auf. Der Kleine hüpfte ausgelassen zwischen ihnen. Kitty, das Kindermädchen, eilte hinterher.
    Gerührt stellte Laura fest, welche Harmonie zwischen Vater und Sohn herrschte, während sie den Eisenbahnen zusahen, die in den Bahnhof ein- und ausfuhren. Philip fand sogar einen freundlichen Lokführer, der den Kleinen in sein Führerhaus nahm und ihm die Armaturen zeigte.
    Als sie irgendwann weitergehen wollten, beklagte John sich erst, aber dann ging er fröhlich plappernd an der Hand seines Vaters die Buckingham Palace Road hinauf in Richtung des Königlichen Gestüts, wo die Pferde und Kutschen von Königin Victoria standen.
    Auf der gegenüberliegenden Seite der sehr belebten Straße hielt ein Fiaker, um die Passagiere aussteigen zu lassen. Ein herausgeputzter Gentleman mit Zylinder und Gehstock bezahlte den Kutscher. Hinter ihm war eine Frau zu erkennen; ihr Gesicht war für kurze Zeit verdeckt, während sie sich das Kleid glatt strich. Dann schaute sie auf. Laura hielt den Atem an.
    Der Junge folgte ihrer Blickrichtung. »Mama!«, rief er, schüttelte die Hand seines Vaters ab und rannte auf die Straße.
    »John!«, brüllte Philip sofort und hastete ihm nach.
    Eine weitere Kutsche kam herangefahren und schickte sich an, die erste zu überholen; das Schnauben der Pferde klang wie ein drängender Warnlaut. Zu spät.
    »John, bleib stehen!«, kreischte Marie und stürzte sich vor die Kutsche.
    In letzter Sekunde riss Philip seinen Sohn vor den wirbelnden Hufen fort. Marie stolperte. Laura würde ihren Schrei nie vergessen; langgezogen, schrill, animalisch. Dann wurde sie von den Rädern überrollt.
    Der Schrei beherrschte ihre Träume für Wochen und Monate. Sie erwachte in den frühen Morgenstunden, zitternd und schwitzend. Danach lag sie wach, durchlebte das Unglück wieder und wieder und wünschte sich, sie hätte irgendetwas tun können. Sie hätten Johns Unaufmerksamkeit vorhersehen müssen, wissen müssen, dass er müde war und Sehnsucht nach seiner Mutter hatte. Wenn sie Marie doch nur etwas eher als John erkannt hätten. In einer winzigen, fatalen Sekunde hatten sie versagt und dem kleinen Jungen die Mutter genommen. Philip war untröstlich; Maries Eltern hatten ihre schöne Tochter verloren. So viele Menschen litten nun.
    Die Verzweiflung zog sie hinab. Es kam ihr vor, als hätte die ganze Traurigkeit der letzten Zeit, ihre Unsicherheit, auf diesen letzten Schlag gewartet.
    Sie schrieb einen kurzen Satz an Philip: »Ich trauere so sehr mit Ihnen beiden. Ich bete nur für Sie …« Täglich wartete sie auf den Eingang der Post, aber sie erhielt keine Antwort.
    Die Beerdigung kam und ging vorüber. Harriet las ihr den Bericht aus der Zeitung vor. Das Begräbnis hatte am beliebten St. George’s Hanover Square stattgefunden, wo Marie und Philip auch geheiratet hatten. Die Liste der Trauergäste enthielt viele bekannte Namen: Edward Burne-Jones, William Morris, John Ruskin, Alma Tadema, selbst der Dichter Swinburne hatte sich zu diesem Ereignis aus seiner Höhle gewagt.
    Laura berichtete ihren Eltern von dem Unfall. Sie hatte gar keine andere Wahl gehabt, denn am Ende war sie stumm und mit leichenblasser Miene von einem Polizeiwagen nach Hause gebracht worden und schluchzend in die Arme ihrer Mutter gesunken. Harriet jedoch gestand sie ihre tiefsten Schuldgefühle. Im Laufe der Zeit, als sie Gelegenheit zum Nachdenken hatte, war sie zu der Überzeugung gelangt, dass sie nicht nur mitverantwortlich an dem Unglück war, weil sie dort gewesen war, obwohl sie es nicht hätte sein dürfen; nein, ihre Mitschuld hatte bereits damit begonnen, dass sie ihre Freundschaft zu Philip die Grenzen des Anstands und der Vernunft hatte überschreiten lassen.
    Fran las Lauras verzweifelte Ergüsse und weinte mit ihr. »Durch diesen Skandal habe ich alle, die ich liebe, zutiefst verletzt«, hatte Laura geschrieben. Ich habe die zarten Fäden zerschnitten, die uns aneinander binden.
    Ihre Eltern sagten kein einziges Wort. Aber Laura wusste, dass sie enttäuscht waren. Am Sonntag in der Kirche war offensichtlich, dass der tragische Vorfall in der gesamten Pfarre bei Kaminabenden und Tischgesprächen ein beliebtes Gesprächsthema war. Nur wenige Frauen sahen Laura offen an, die Männer warfen ihr verstohlene Blicke zu. Niemand sagte etwas, aber als Laura sich

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