Der Zauber des Engels
gewesen, um ein paar Dinge zu regeln, und hatte einen Brief vom Büro des Bischofs geöffnet.
Bei verschiedenen Gelegenheiten hatten diverse Offizielle die Kirche besucht, um Raphael zu besichtigen, der inzwischen in der Kapelle an die Wand gelehnt stand. Schließlich hatte man Jeremy gestattet, den viktorianischen Schrank zu verrücken und Raphael aufzuhängen.
»Also, Fran, ich werde wegen des Schranks mit dem Schreiner Kontakt aufnehmen«, sagte Jeremy und rührte sich Süßstoff in den Kaffee. »In der Zwischenzeit können Sie und Zac vielleicht die nötigen Vorbereitungen treffen, um das Fenster einzusetzen.«
Zac, der nun wieder ganz gesund war, David und ein paar Monteure installierten das neue Fenster eines Morgens gegen Ende November. Der Pfarrer, der Kirchendiener und ich sahen dabei zu und versuchten, uns irgendwie nützlich zu machen. Es gab eine Schrecksekunde, in der wir alle dachten, das Maß sei falsch, aber am Ende passte alles perfekt. Ein letztes Polieren, dann traten wir alle einen Schritt zurück, um das Werk zu betrachten.
Das Ergebnis war atemberaubend. Im kalten Licht unseres nördlichen Winters glühte das Fenster ganz leicht. Der Engel schwebte über uns, schaute auf uns herab und segnete uns mit ausgestreckter Hand.
»Ich bin so froh, dass wir das noch vor Weihnachten geschafft haben«, sagte der Pfarrer freudestrahlend.
»Und vor der Gerontius- Aufführung«, ergänzte ich. Unser Konzert würde nächsten Sonntagabend stattfinden. Außerdem sollte das neue Fenster feierlich eingeweiht werden. Das Ereignis war für den Abend des 13. Dezembers geplant.
»Das Fest der heiligen Luzia«, erklärte der Pfarrer. »Das Fest des Lichts. Passender geht es nicht.«
Da ich so viel anderes zu tun hatte, hatte ich lange nicht mehr in Lauras Tagebuch gelesen. Doch an diesem Abend nahm ich es von dem Bücherstapel, den ich mit ins Pfarrhaus gebracht hatte. Es waren nur noch wenige Seiten bis zum Ende. Raphael war fertig und meine Reise mit Laura so gut wie beendet. Beides würde mir fehlen.
Überrascht stellte ich fest, dass unser Termin für die Einweihung genau derselbe war wie der der ursprünglichen Segnung, nur ungefähr ein Jahrhundert später.
39. KAPITEL
Führ mich in das Land der Engel.
Carmina Gadelica
LAURAS GESCHICHTE
An einem Mittwoch Anfang Dezember 1880 brachte Philip Russell einige Männer von Minster Glass mit, um die beiden Fenster einzubauen. Laura, die seit ihrer brüsken Antwort auf Philips Brief im Oktober nichts mehr von ihm gehört hatte, vermied es bewusst, an diesem Tag die Kirche zu betreten. Aber ihr war klar, dass sie der offiziellen Segnung am kommenden Sonntag, dem Fest der heiligen Luzia, nicht fernbleiben konnte. Schließlich war eins der Fenster Caroline gewidmet, und viele Mitglieder und Freunde der Familie Brownlow würden anwesend sein.
Am nächsten Tag huschte sie jedoch vor dem Morgengebet rasch in die Kapelle, um einen kurzen Blick auf die Fenster zu werfen. Wie viel schöner und lebendiger sie an diesem Ort sind, dachte sie. Die Figuren schienen in der dunklen Kapelle regelrecht zu schweben, und Laura hatte das Gefühl, ihre Anwesenheit förmlich zu spüren. Rasch verwarf sie die Gedanken wieder. Selbst ihr Vater mit seiner Vorliebe fürs Mystische würde das für Unsinn halten.
Es waren vor allem die Gesichter, die sie faszinierten. Sie hatte Marias freudigen Blick studiert; ihre Anbetung spiegelte sich im Ausdruck des kleinen Jungen; dann hatte sie plötzlich festgestellt, wie vertraut sie ihr waren. Es war ihr zuvor gar nicht aufgefallen: Maria war ihre Mama. Sie hatte diesen Gesichtsausdruck gesehen, wenn sie Arthur auf dem Schoß gehalten hatte. Und das göttliche Kind? Auch wenn es etwas älter war als Arthur, hatte Philip ihn offenbar vor Augen gehabt, als er das Jesuskind gezeichnet hatte.
Aber was war mit dem Engel? Lediglich die Augen erinnerten an Caroline – groß, tief, mit dichten Wimpern. Dieser Engel hatte ein viel eckigeres Gesicht, als Caroline je gehabt hatte. Der Engel war auch nicht wie Marie – sie war eine dunkle, exotische Schönheit gewesen. Nun, Philip musste massenhaft Modelle zur Auswahl gehabt haben, vermutlich besuchten die Frauen scharenweise die Grosvenor Gallery.
Während Laura so dasaß und über Caroline nachdachte, überkam sie plötzlich ein tiefes Gefühl der Ruhe. Der Engel schien heller zu leuchten, sie zu wärmen. Das bildete sie sich doch nicht ein, oder? Sie hatte ein ganz seltsames Gefühl, so als ob
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