Der Zauber des Engels
ausgelegt hatte.
Warum konnte er nicht warten? Ich stellte meine Tasche ab und beschloss, meinen Besuch bei Dad auf später zu verschieben.
»Soll ich helfen?«, fragte ich zögernd und freute mich, als Zac lächelte.
»Wenn du gut puzzeln kannst, gerne.« Mit seinen langen kräftigen Fingern schob er die Teile auf dem Papier herum.
Schweigend betrachteten wir die Elemente vor uns auf dem Tisch. Einige Goldfragmente waren darunter, die offensichtlich nur dekorative Funktion besaßen. Ein Stück Weiß mit Rot entpuppte sich als eine Hand, die einen Stock umfasste. Bei einem weißen Teil mit wellenförmigen Goldlinien schien es sich um Haare zu handeln. Zac schob die Scherben auf dem Papier herum und ordnete sie den möglichen Stellen zu, dann versuchten wir, kleinere Teile rundherum zu legen und ein größeres Bild daraus zu bauen.
Ich stöhnte. »Dieses Muster ist wie der Himmel in einem Puzzle. Schau mal, da ist ein Teil mit einem Auge, und das hier scheint eine Nase zu sein. Kannst du mir noch ein paar Gesichtsteile raussuchen?«
Zac hob die größeren Stücke aus dem Karton und begann, vorsichtig in den Scherben darunter zu suchen.
Schließlich hatten wir den größten Teil des Gesichts zusammen, aber dieser Teil des Fensters hatte erheblichen Schaden erlitten. Obwohl das Glas früher einmal ein einziges Stück gewesen sein musste, war es jetzt so stark zersplittert, dass es aussah, als läge ein feiner Spitzenschleier über dem Gesicht. Es war unmöglich, es als Ganzes zu erkennen. Frustriert schauten wir es eine Zeit lang an. Dann wickelte Zac ein großes goldenes Fragment aus einer weichen Umhüllung, das ganz offensichtlich Federn darstellen sollte. Wir grinsten uns an. »Ein Engel!«, riefen wir gleichzeitig.
Irgendwie schienen plötzlich überall um mich herum nur noch Engel zu sein.
Wir arbeiteten eine weitere halbe Stunde, bis wir keine Teile mehr hatten. Das Bild war aber erst zu drei Vierteln fertig. Weite Teile des gemusterten Hintergrunds und der Kleidung waren noch unvollständig, außerdem konnten wir nicht erkennen, wo Hände, Füße oder der Kopf hingehörten, obwohl Zac ein paar schlimm zersplitterte Anschlussteile zurückgelegt hatte, damit wir es wenigstens versuchen konnten.
»Eigentlich ist das Glas in gar keinem so schlechten Zustand«, erklärte Zac. »Vermutlich ist das Fenster nicht direkt getroffen worden, sondern durch die Druckwelle einer Explosion zersplittert. Oder siehst du irgendwo Rußspuren?«
Ich schüttelte frustriert den Kopf. »Auf jeden Fall kommen wir ohne Vorlage jetzt nicht mehr weiter.«
Zac schien auch mehr als genug zu haben. »Wir können nur hoffen, dass der Reverend irgendwo einen alten Kirchenführer mit einer Abbildung findet, sonst müssen wir selbst die Bibliotheken durchsuchen. Gibt es denn oben auf dem Dachboden nichts Brauchbares? Hattest du nicht gesagt, dein Dad hätte alle Unterlagen herausgesucht?«
»Den Originalentwurf, meinst du? Kann sein. Ich sehe noch mal nach, wenn ich später wieder hier bin.«
Als ich von meinem Besuch bei Dad zurückkam, war es fast neun. In der Wohnung klingelte das Telefon. Ich beeilte mich ranzugehen, weil ich dachte, es könne was mit Dad sein. Aber es war Jo.
»Ich habe mich so gefreut, dass wir uns gestern wiedergesehen haben«, sagte sie. »Ich habe morgen Abend nichts vor. Hast du Lust, dich mit mir zu treffen?«
»Ja, gerne«, antwortete ich erfreut.
Nachdem ich aufgelegt hatte, übte ich eine Zeit lang Tonleitern und Arpeggios auf der Tuba. Der Klang in dem engen Raum war überwältigend, auch wenn die Nachbarn das möglicherweise anders sahen. Ich legte das Instrument zurück in den Kasten.
Ich erinnerte mich wieder an den zerstörten Engel und stieg auf den Dachboden. Dort setzte ich mich an Dads Schreibtisch, überließ mich kurz der bangen Ahnung, welch immense Arbeit vor mir lag, und fing dann an, die alten Aktenstapel zu durchsuchen. Einige Akten waren in verblasstem Kupferdruck datiert, andere trugen Dads Bleistiftkritzeleien – »überwiegend Rechnungen« zum Beispiel, oder »St Ethelberga’s« oder einfach ein Datum. Dann gab es Papierfragmente, die nur mit einem verschlissenen Band zusammengebunden waren. Auf dem Fußboden neben dem Schreibtisch lagen Papierrollen in allen möglichen Größen; einige rollte ich vorsichtig auseinander. Es waren viele Entwürfe für Fenster darunter, aber nicht das, wonach ich suchte. Ich wusste, dass sich in dem großen Schrank an der Kopfwand des
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