Der Zauber des Engels
sie stand mitten in einer Blumenwiese. Kurz bevor ich von zu Hause weggegangen war, hatte Dad das Bild nach einem eigenen Entwurf gefertigt, der an der Art, wie dem Engel das Haar ins Gesicht wehte, sehr an die 1970er-Jahre erinnerte.
»Wissen Sie, wie man solche Glasbilder macht?«, fragte ich das Mädchen.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich … ich mag einfach Engel. Und das Glas ist so hübsch. Ich wünschte, ich könnte es kaufen. Wie teuer ist es?«
»Er ist leider nicht zu verkaufen«, antwortete ich, sah an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie enttäuscht und erleichtert zugleich war, aber die Erleichterung schließlich die Oberhand gewann.
»Dann kann ich wenigstens immer vorbeikommen und ihn anschauen.«
»Ja, ganz bestimmt.«
»Es ist nämlich mein Engel.«
Jetzt staunte ich.
»Jeder Mensch hat einen Schutzengel, wussten Sie das nicht? Und das hier ist meiner.«
»Ich glaube, wir können alle ab und zu ein bisschen Extrahilfe im Leben gebrauchen«, antwortete ich vorsichtig, weil ich die ungewöhnlichen Gedanken weder ermutigen noch das Mädchen aufregen wollte.
»Das stimmt.« Sie lächelte wieder, und ihr Gesicht veränderte sich völlig. Ihre Ängstlichkeit war auf einmal verflogen. »Unsere Schutzengel begleiten uns auf Schritt und Tritt. Damit uns nichts passiert, verstehen Sie? Und manchmal …«, sie zögerte und schaute weg, »helfen sie uns auch, wenn uns etwas wehtut.«
Plötzlich wirkte sie so unglücklich, dass ich sofort begriff, über wen sie sprach – über sich selbst. Oje, jetzt würde sie mir gleich eine schreckliche Geschichte erzählen, und ich würde weder wissen, ob ich sie glauben, noch, wie ich darauf reagieren sollte.
»Wie heißen Sie?«, fragte ich sie und verriet ihr meinen Namen.
»Amber«, antwortete sie. »Ich wohne in dem Heim von St. Martin’s.«
Ich nickte langsam. »Da arbeitet meine Freundin. Jo Pryde. Kennen Sie sie?«
»Oh ja, die ist echt nett.« Die Antwort überraschte mich nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es jemanden gab, der Jo nicht mochte. »Ich bin nur so lange dort, bis ich mich wieder auf die Reihe gekriegt habe. Einen Job gefunden und so.«
»Ah ja«, sagte ich. »So, Amber, jetzt muss ich aber weitermachen. Es war nett, mit Ihnen zu reden.«
»Danke, dass Sie mir den Engel gezeigt haben.« Sie nickte und entschwand in einer Staubwolke, was natürlich nur ein Spiel des Lichts war.
Ich dachte noch einmal über Schutzengel nach, während ich den Engel reinigte, den ich von nun an nur noch als Ambers Engel bezeichnen konnte. Eine rührselige Vorstellung, wie aus einem viktorianischen Kinderbuch. Aber was war mit all den Kindern, die bei einem Feuer ums Leben gekommen, unter die Hufe eines Pferds geraten oder an Scharlach gestorben waren? Hatten deren Schutzengel zum falschen Zeitpunkt in die falsche Richtung geschaut? Dad hatte in Engeln eine Quelle der Inspiration gesehen. Manchmal, wenn er eine gute Idee für einen neuen Entwurf gehabt hatte, sagte er: »Ich glaube, ein Engel ist gerade über mich hinweggeflogen.«
Ja, wirklich, dachte ich, während ich unseren Engel ins Schaufenster zurückhängte, sie sind sehr hübsch. Aber die Zeiten haben sich geändert. Engel gehörten in Geschichten, auf Bilder und Träume – das war alles.
Erst am späten Nachmittag hörte ich Zac mit dem Wagen in den Hof fahren. Ich öffnete die Hintertür, sah, dass er einen schweren Karton aus dem Kofferraum hievte, und lief raus, um ihm zu helfen. Ich hatte ganz vergessen, dass er das zerbombte Fenster von St. Martin’s abholen wollte. Der Karton wölbte sich an einer Seite bedenklich, und ich legte schnell die Hand an die aufgerissene Seite, damit er nicht platzte. Zusammen schleppten wir ihn in den Laden und stellten ihn auf den Tisch.
Einen Moment standen wir nur da und sahen ihn an, dann öffnete Zac die Laschen, zog erst das Zeitungspapier heraus und danach den Teil einer Spitze. Dabei brach ein Stück Glas ab, weshalb er alles hastig in den Karton zurücklegte.
»Jetzt hab ich sowieso keine Zeit, es mir in Ruhe anzusehen«, murmelte er. Er griff nach Dads Auftragsbuch und blätterte darin, nicht ohne immer wieder sehnsüchtige Blicke auf den Karton zu werfen.
Um fünf schloss ich die Tür ab. Ich hatte vor, sofort zu Dad ins Krankenhaus zu gehen. Doch als ich mich von Zac verabschieden wollte, sah ich, dass er Glas- und Bleiteile aus dem Karton nahm und vorsichtig auf einem Stück Kaschierpapier sortierte, das er auf dem Tisch
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