Der Zauber des Engels
Krankenhaus ankamen, trug Dad immer noch eine Sauerstoffmaske. Zac setzte sich zu ihm ans Bett, während ich losging, um eine Vase zu holen. Als ich am Schwesternzimmer vorbeikam, erkundigte ich mich kurz nach Dads Zustand. Aber auch dieses Mal schüttelten sie bloß den Kopf und baten mich, am nächsten Tag anzurufen, weil im Moment kein Arzt erreichbar sei. Frustriert ging ich weiter. Wieso gab mir niemand eine ausführliche Auskunft?
Als ich mit der Vase ins Zimmer zurückkam, hatte Zac sich nach vorn gebeugt und redete mit leiser Stimme auf Dad ein. Offenbar erklärte er ihm etwas Kompliziertes. Dad, der nie ein besonders guter Zuhörer gewesen war, war anscheinend zum perfekten Geheimnisträger geworden. Wer konnte wissen, wie sehr es ihn in seinem Dämmerzustand quälte, dass man ihn jetzt ins Vertrauen zog? Rasch zog ich mich zurück, um die Blumen in die Vase zu stellen.
»Setz du dich doch mal ein bisschen zu ihm«, sagte Zac, als ich einige Minuten später zurückkam. »Ich warte unten im Café auf dich.«
Dad schlief die ganze Zeit, während ich an seinem Bett saß. Ich dachte an Gerontius, den alten Mann, der angesichts des Todes Gott ängstlich um Hilfe anflehte. Ob Dad mit dem, was ihm von seinem Verstand geblieben war, ahnte, in welchem Zustand er sich befand? Oder dämmerte er bloß vor sich hin? Ich fühlte mich schrecklich hilflos; dabei wirkte er eigentlich sehr friedlich.
Zwanzig Minuten vergingen, dann fiel mir wieder ein, dass der arme Zac unten wartete. »Auf Wiedersehen, Dad. Ich komme morgen wieder.« Ich küsste ihn auf die Stirn, sie fühlte sich kühl und trocken an.
Endlich entdeckte ich Zac in dem überfüllten Krankenhaus-Café. Er war in ein dickes Taschenbuch vertieft und schien die bewundernden Blicke von zwei jungen Krankenschwestern am Nebentisch gar nicht zu bemerken.
»Möchtest du noch einen Kaffee, Zac?«
Er stopfte das Buch in seine ausgebeulte Jackentasche. »Ich hole einen«, sagte er und stand auf.
Ich sah zu, wie er sich den Weg zwischen den Tischen hindurch zur Theke bahnte. Er müsste mal zum Friseur gehen, dachte ich mütterlich, und eine neue Jacke wäre auch nicht schlecht.
»Was liest du denn?«, fragte ich ihn, als er mit zwei Bechern Kaffee und ein paar Stücken Hefegebäck zurückkehrte.
»Trollope«, antwortete er.
»Anthony oder Joanna?«
Lächelnd zog er das Buch aus seiner Jackentasche und zeigte es mir. Die Pallisers . Ich schlug es auf, und ein Briefumschlag, den er als Lesezeichen benutzte, segelte heraus. Bei dem Versuch, ihn aufzufangen, berührten sich unsere Hände, und die Köpfe stießen zusammen.
»Entschuldige«, sagte er und hob den Umschlag auf. »Alles in Ordnung?« Dabei war er derjenige, der angeschlagen aussah.
»Alles okay. Was ist los mit dir?«, flüsterte ich. »Sag es mir.«
Seufzend gab er mir den Briefumschlag. Er war an eine Miss Olivia Donaldson in Melbourne, Australien, adressiert, aber die Adresse war durchgestrichen und darüber stand geschrieben: »Empfänger unbekannt. Zurück an Absender.«
»Olivia ist meine Tochter«, erklärte Zac niedergeschlagen. Er fing meinen Blick auf und versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht.
»Deine Tochter? Zac, ich hatte ja keine Ahnung …«
»Warum hätte ich es erwähnen sollen …«
»Hm.« Das bewies, wie wenig wir miteinander redeten. »Wie alt ist sie denn?«
»Sie wird demnächst zwölf. Das war eine Karte zu ihrem Geburtstag.«
Zac hatte also eine zwölfjährige Tochter namens Olivia. Ein hübscher Name, den ich mir für eine Tochter auch gut vorstellen konnte. Ich dachte daran, wie sanft er mit Amber umging. Sicher war er ein liebevoller, fürsorglicher Vater.
»Als ich sie zuletzt gesehen habe, war sie drei Monate alt.«
»Du meine Güte, Zac …«
»Ich habe ihr jedes Jahr zum Geburtstag eine Karte geschickt, aber nie eine Antwort bekommen. Und jetzt das hier.«
Wir starrten beide auf den Umschlag.
»Ich weiß nicht mal, wann sie umgezogen sind«, sagte er resigniert.
Ich gab ihm den Umschlag zurück. »Wie erträgst du es nur, sie so lange nicht zu sehen?«
»Wenn ich ehrlich sein soll, ich versuche, nicht an sie zu denken. Trotzdem möchte ich ihr wenigstens zum Geburtstag gratulieren, aber ich weiß nicht, ob ihre Mutter ihr die Karten je gezeigt hat. Jedenfalls hat sie sich nie gemeldet. Das ist eigentlich das Schlimmste … nicht zu wissen, ob Olivia von mir weiß.«
»Glaubst du denn, dass ihre Mutter ihr nichts von dir erzählt hat?« Es fiel
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