Der Zauber des Engels
Salon gewesen? Das könnte der Raum gewesen sein, in dem ich das Piano gesehen hatte.
Ich beschloss, den anderen von Laura zu erzählen. »Bei meinen Recherchen zu dem Fenster …« Ich stockte und warf einen kurzen Blick in Bens Richtung, der sich auf dem Sofa lümmelte. »Hat er euch von dem Engelfenster erzählt?«, fragte ich.
»Das Fenster, das schuld ist, dass die Orgel nicht repariert wird? Klar«, antwortete Michael. »Er hat sich endlos darüber aufgeregt, stimmt’s, Nina?« Michael hatte gerade im Bücherregal gestöbert, ab und zu ein Buch rausgenommen und darin geblättert. Jetzt stellte er sich hinter Ninas Sessel und schaute mit leicht besitzergreifendem Blick auf sie herab. Sie schien es nicht zu bemerken.
»Das klingt auf jeden Fall sehr aufregend«, sagte sie zu mir. »Ein altes, zerbrochenes Fenster zusammenzusetzen, das ist ja fast so, als würde man ein Stück Geschichte neu entdecken.«
»Es wird ein Stück Vergangenheit bleiben, wenn wir nicht herausfinden, wie es mal ausgesehen hat«, antwortete ich. »Immerhin, ich habe das Tagebuch der Frau gefunden, die hier gelebt haben muss. Ihre Familie hat das Fenster damals in Auftrag gegeben.«
»Ehrlich? Wer war sie denn?«, fragte Nina, und ich berichtete ihnen alles über Laura und die unglückselige tote Caroline.
»Ziemlich gespenstisch, wenn man so darüber nachdenkt.« Schaudernd ließ Nina den Blick durch das Zimmer schweifen, so als könne Laura plötzlich aus dem Nichts auftauchen.
Michael sah Ben grinsend an. »Hast du hier je Geister gesehen?«
Ben schüttelte den Kopf. Er war der Einzige, der sich nicht für Lauras Tagebuch zu interessieren schien. Nach einer Weile stand er auf und begann an der Stereoanlage herumzufummeln. Kurz darauf schwiegen wir zu den leidenschaftlichen Klängen von Gershwins Rhapsody in Blue.
»Das vertreibt den Spuk«, sagte er und drehte den Ton wieder leiser. »Michael, kannst du uns noch etwas Wein nachschenken? Ich besorge uns was zum Knabbern, sonst verhungere ich noch.«
Die Unterhaltung plätscherte munter weiter. Michael erzählte eine komplizierte Geschichte über einen gemeinsamen Schulfreund von ihm und Ben, der Boko hieß, bei irgendeinem finanziellen Täuschungsmanöver erwischt worden war und dem jetzt eine Gefängnisstrafe drohte. Nina riss Augen und Ohren auf, und es machte den Eindruck, als hörte sie zum ersten Mal eine solche Geschichte, die sich weit jenseits der Grenzen ihrer watteweichen Welt abzuspielen schien.
Ich war froh, in einem warmen Zimmer zu sitzen, Wein zu trinken, Käse und Brot zu essen und Ben zuzusehen, der Michaels jämmerlicher Erzählung mit ernster Miene lauschte und ab und zu einen Kommentar einwarf. Die beiden brauchten nicht viele Worte, um sich zu verständigen, weil ihr gemeinsamer Hintergrund sie verband. Ich war ein bisschen eifersüchtig. So ein Verhältnis hatte ich mit niemandem, außer vielleicht mit Jo.
Als die Geschichte zu Ende war, herrschte allgemeines Schweigen. Nina gähnte. »Und wie kommt ihr mit dem Gerontius voran?«, erkundigte sie sich schließlich.
»Ganz gut«, antwortete Ben und goss noch einmal Wein nach. »Ich bin nur überrascht, wie schlecht sich die meisten vorbereiten. Letzten Montag haben immer noch viele vom Blatt gesungen, und ich finde, das reicht einfach nicht.«
Michael stellte die Weinflasche zur Seite. »Das siehst du falsch, Ben. Die Leute kommen, weil sie Spaß am Singen haben, nicht weil sie eine glänzende Aufführung hinlegen wollen.«
»Aber wir brauchen ein größeres Publikum, um die Kosten zu decken, Michael. Und die Leute zahlen heutzutage nur für hervorragende Qualität. Es gibt in London einfach zu viele Alternativen. Außerdem macht es doch Spaß, richtig gut zu sein.«
»Da hast du natürlich recht«, gab Michael zu und biss in einen Käsecracker. »Trotzdem rate ich dir zu größerer Vorsicht. Sonst kommt irgendwann keiner mehr.« Die Uhr auf dem Kaminsims schlug leise, als die Zeiger auf elf vorrückten. »Mist!«, rief er mit einem Blick auf seine Armbanduhr. »Ich muss morgen den Frühzug nach Gloucestershire erwischen und habe noch nicht mal gepackt. Nina, sollen wir uns ein Taxi teilen?«
»Ja, gern.« Sie schaute von Ben zu Michael, dann wieder zu mir und wirkte ein bisschen hilflos. »Ich komme mit. Um diese Zeit fahren kaum noch Züge nach Wimbledon.«
»Und du solltest auf keinen Fall alleine fahren«, fügte Ben hinzu und stand gähnend auf. »Ich rufe uns ein Taxi.«
Endlich ging sie, und
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