Der Zauber eines fruehen Morgens
Ärger bekommst.«
Belle blieb ein, zwei Augenblicke stehen und sah ihm nach, als er wegfuhr. Plötzlich wurde ihr das Ausmaß ihres Handelns bewusst. Wie sollte sie Jimmy je wieder in die Augen sehen? Warum hatte sie der Versuchung nachgegeben? War eine Nacht voller Leidenschaft ein ganzes Leben mit Schuldgefühlen wert?
Vera kam zu Belle gelaufen, als sie gerade den Motor ihres Wagens anließ. David war im Vorratsraum, um noch mehr Decken zu holen. »Sally war gestern Abend ein bisschen gehässig«, flüsterte Vera. »Sie dachte, es wäre Will, der dich abgeholt hat, und hat gemeint, dass es für ihn langsam Zeit wird, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Ich habe ihr nicht gesagt, dass es jemand anders war. Lass dir also nichts anmerken, falls sie dich darauf anspricht!«
Belle starrte Vera entsetzt an. »Sie hat gedacht, dass ich die ganze Nacht bei ihm war?«
Vera grinste schief. »Nein, sie und die anderen haben schon vor neun in ihren Betten gelegen und geschlafen und nicht mitgekriegt, dass du nicht zurückgekommen bist. Ich bin heute Morgen vor ihnen aufgestanden und habe dein Bett zerwühlt und die Tür aufgeschlossen.«
»Dem Himmel sei Dank!«, rief Belle. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie denken würden, dass ich mir Mirandas Verlobten geschnappt habe. Ich fühle mich sowieso schon schlecht genug.«
Vera nahm ihre Hand und drückte sie verständnisvoll. »Du warst vielleicht ein bisschen schwach«, erwiderte sie tröstend, »du bist aber nicht schlecht. Du hast Trost gebraucht, das ist alles.«
Veras Verständnis rührte Belle. »Danke für alles! Nachher versuche ich, dir das Ganze zu erklären.«
Bis zehn Uhr morgens hatte Belle die Tour zum Bahnhof dreimal gemacht. Da ihr Wagen als zweiter das Lazarett verlassen hatte, hatten David und sie alle sitzenden Patienten übernommen, die wesentlich leichter zu befördern waren als die, die liegen mussten. Aber bei der zweiten und dritten Tour waren vor allem Kanadier dabei, große, kräftige Männer, alle mit schweren Verletzungen.
»Du bist heute ja so ruhig und verträumt«, bemerkte David, als sie den Krankenwagen an der Stelle reinigten, wo sich einer der Verwundeten übergeben hatte. »Gibt es dafür einen besonderen Grund?«
In Wirklichkeit durchlebte sie in Gedanken immer wieder ihre Nacht mit Etienne, und zwar so intensiv, dass sie spürte, wie sie immer erregter wurde. Sie fragte sich ständig, wie lange es dauern würde, bis sie ihn wiedersah.
Belle vertraute David sehr viel an; sie waren schon vor Mirandas Tod gute Freunde geworden und hatten sich danach noch enger aneinander angeschlossen. Aber über Etienne konnte sie nicht mitihm reden – er wäre entsetzt, wenn er wüsste, dass sich eine verheiratete Frau, deren Mann an der Front war, mit einem anderen traf.
Erst jetzt wurde Belle ihre Situation voll und ganz bewusst. Jimmy war ein guter Mensch, und er liebte sie. Es würde ihm das Herz brechen, wenn sie ihm eröffnete, dass sie ihn verlassen wollte. Und dann würde sie auch Mog verlieren, die mit Garth verheiratet war und deshalb nicht für Belle Partei ergreifen konnte.
»Ach, immer dieselbe alte Geschichte – man denkt zu viel über die Schrecken des Krieges nach«, sagte sie rasch. »Das Leben ist eine sehr unsichere Sache, nicht?«
»Hast du schon von deinem Mann gehört, seit du ihm von Mirandas Tod geschrieben hast?«
»Nein, und von Mog und Garth auch nicht«, antwortete sie. »Ich frage mich ständig, ob Mog bei Mirandas Beerdigung war. Mrs. Forbes-Alton hat sicher dafür gesorgt, dass alle Welt davon erfährt, und Mog war bestimmt schockiert, dass ich nicht dabei war. Ich habe ihr in meinem Brief natürlich die Gründe erklärt, doch sie wird ihn nicht rechtzeitig bekommen haben.«
»Hoffentlich ist sie Mog nicht mit diesem Unsinn gekommen, dass du schuld daran bist!«, meinte David. »Furchtbar, so etwas über jemanden zu sagen!«
»Vielleicht ist Mrs. Forbes-Altons Ehe nicht sehr glücklich«, gab Belle zu bedenken. »Ich nehme an, so etwas verdirbt den Charakter.«
»Das glaube ich auch. Ich hatte eine Tante, die ein richtiger Drachen war, und irgendwann erfuhr ich, dass man ihr nicht erlaubt hatte, ihre große Liebe zu heiraten. Der Mann, mit dem man sie verheiratet hat, war ein anständiger Kerl, jedoch ohne jedes Rückgrat. Deshalb konnte sie sich zu einer solchen Despotin auswachsen. Ich frage mich oft, wie die Ehefrauen der Schwerverwundeten mit ihren Männern zurechtkommen werden, wenn sie wieder
Weitere Kostenlose Bücher