Der Zauber eines fruehen Morgens
Amerikaner nur halb so gut sind, können wir die Boches vielleicht bis Weihnachten erledigen und alle nach Hause fahren. Aber darauf hoffen wir jetzt schon seit drei Jahren.
Eine Million Küsse,
dein dich liebender Jimmy
Belle fuhr sich mit dem Handrücken über ihre feuchten Augen. Der Brief stand für alles, was Jimmy war: ein liebevoller, fürsorglicher Mann, der mehr an andere als an sich selbst dachte. Wegen der Zensur hatte er nicht genau gesagt, wo er war – tatsächlich war es erstaunlich, dass er gewagt hatte, Haig und Plumer zu erwähnen –, doch seine Angaben zu den Bedingungen verrieten ihr, dass er sich in der Nähe von Ypern befand; von den Soldaten, die dort verwundet worden waren, wusste sie, dass die Zustände verheerend waren.
Seit der Nacht mit Etienne hatte sie in einer Art Seifenblase gelebt, die sie daran hinderte, sich näher mit der Zukunft auseinanderzusetzen. Irgendwie hatte sie sich in dem Glauben gewiegt, dass so etwas wie ein Wunder geschehen würde und sie sich nicht zwischen den beiden Männern würde entscheiden müssen.
Doch als sie jetzt Jimmys Brief in der Hand hielt, wusste sie, dass sie den Kopf in den Sand gesteckt hatte. Was in aller Welt sollte sie machen? Falls er hier auftauchte, würde sie ihm nicht in die Augen sehen können. Es würde ihn umbringen, wenn er von ihrem Betrug erfuhr, und er hatte nichts getan, um das zu verdienen.
Sie hätte sich rechtfertigen können, wenn er ein Trinker gewesen wäre, wenn er sie vernachlässigt oder verprügelt hätte. Außerdem liebte sie ihn auch. Daran hatte sich durch die Nacht mit Etienne nichts geändert. Aber war es möglich, zwei Männer gleichzeitig zu lieben?
»Schlechte Nachrichten?«, fragte David.
Belle zuckte zusammen. Sie hatte weder gesehen noch gehört,wie David zu ihr getreten war, und sie vermutete, dass er beobachtet hatte, wie sie den Brief las und sich die Augen trocknete.
»Nein, wenn ich Jimmys Briefe lese, ist mir immer zum Weinen«, sagte sie schnell. »Es ist so lange her, seit ich ihn gesehen habe, und manchmal denke ich, dass zwischen uns alles anders sein wird, wenn der Krieg vorbei ist. Wir sind nicht mehr dieselben Menschen.«
David legte seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie leicht an sich. »Wenigstens bist du auch hier drüben und siehst tagtäglich die Opfer des Krieges. Dadurch stehen deine Chancen besser als die der Frauen, die die ganze Zeit zu Hause waren.«
»Vielleicht«, seufzte sie. Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn ein. »Gehen wir!«
Sie waren erst ein Stück die Straße hinuntergegangen, als David bemerkte: »Irgendwas liegt dir auf der Seele, das spüre ich. Du kannst es mir ruhig anvertrauen. Ich werde keinem was verraten.«
Belle versuchte zu lächeln. David war auch ein netter Mann, nie mürrisch, immer zuverlässig und gewissenhaft. Außerdem war er sehr einfühlsam; deshalb wusste sie, dass sie ihm irgendeine Antwort geben musste, mit der er sich zufriedengeben würde. »Ich kann Mirandas Tod einfach nicht verwinden. Einen Moment geht’s mir gut, im nächsten bin ich total am Boden zerstört. Ich habe gute Lust, meine Siebensachen zu packen und nach Hause zu fahren.«
»Das geht nicht! Was wird dann aus mir?«, rief er. »Für die anderen bin ich ein Glückspilz, weil ich mit dem hübschesten Mädchen im Lazarett arbeite; das ist wirklich gut für mein Ego.«
Belle musste unwillkürlich lachen. »Du könntest darum bitten, Vera als Partnerin zu kriegen; sie ist sehr hübsch und noch dazu ungebunden.«
»Keine schlechte Idee«, meinte er und grinste. »Aber wahrscheinlich hängen sie mir Sally an, und die ist so was von eingebildet! Habe ich dir schon mal von dem Fahrer erzählt, mit dem ich früher zusammengearbeitet habe? Ein amerikanischer Besserwisser namens Buck, der ständig gemeckert hat. Ich konnte den Kerl nichtausstehen. Zum Glück hat er sich verzogen, bevor mir der Kragen geplatzt ist. Apropos Vera, ich habe mich gestern Abend mit ihr unterhalten. Sie will auch nicht, dass du weggehst. Sie hat gesagt, dich kennenzulernen war mit das Beste, was ihr hier passiert ist.«
Belle war gerührt; sie hatte Vera auch sehr gern. Sie hatte ein sonniges Gemüt, war warmherzig und oft sehr witzig. Dünkel war ihr völlig fremd. Manchmal musste Belle ihr Sallys snobistische Bemerkungen sogar erklären, weil Vera in einer klassenlosen Gesellschaft aufgewachsen war und mit dieser englischen Eigenart nichts anfangen konnte. Vera hatte für Belles
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