Der Zauber eines fruehen Morgens
fegte die Blätter von den Bäumen und hinterließ auf den Wegen einen dichten Laubteppich. Belle fror, und sie musste an Etienne denken, der zu allen Entbehrungen des Soldatenlebens jetzt auch noch mit eisiger Kälte fertigwerden musste.
»Ich habe gestern kurz mit Ihrem Mann gesprochen«, berichtete Mr. Gayle und lenkte ihre Gedanken wieder auf ihren Besuch bei Jimmy. »Er wirkte wesentlich entspannter und freute sich darauf, Sie zu sehen. Tut mir leid, dass ich Sie heute nicht zum Bahnhof zurückbringen kann, doch gegen halb fünf wird Mrs. Cooling, die Frau eines anderen Patienten, hier abgeholt, und ihr Fahrer kann Sie auch gleich mitnehmen.«
Belle bedankte sich und fragte ihn, wie er und seine Frau den Verlust ihres Sohns verkraftet hatten.
»Am Anfang gar nicht gut«, gab er nachdenklich zu. »Wir waren zornig und bitter und haderten mit unserem Schicksal. Aber so viele Menschen haben Söhne, Brüder und Ehemänner verloren. Wir sind mit unserem Kummer nicht allein. In unserem Dorf lebt eine Witwe, deren drei Söhne alle im Krieg gefallen sind. Wir haben zum Glück noch zwei Töchter und einen zweiten Sohn, der zu jung ist, um eingezogen zu werden. Etwas für die Verwundeten zu tun hilft uns. Einige der jungen Männer aus Haddon Hall sind uns richtig ans Herz gewachsen. Manchmal, wenn ich die furchtbaren Verletzungen sehe, die viele von ihnen davongetragen haben, und mir vorstelle, wie schwer sie es im Leben haben werden, bin ich fast froh, dass unser John gleich tot war.«
»Ja, es ist ein grausames Schicksal«, stimmte Belle zu. »Ich habe so viele Invaliden in Frankreich und hier im Royal Herbert gesehen und mich oft gefragt, wie ihre Familien es wohl schaffen, den Alltag mit ihnen zu bewältigen.«
»Aber der Zustand Ihres Mannes wird sich verbessern.« Mr. Gayle legte kurz eine Hand auf ihren Arm. »Vertrauen Sie darauf!Das Leben wird für Sie nicht mehr so sein, wie es vor dem Krieg war, doch Sie werden wieder glücklich, Sie beide.«
»Ja, natürlich.« Seine Güte rührte sie. »Wir haben viel, wofür wir dankbar sein können, und wenigstens habe ich ein bisschen Erfahrung mit den Problemen, mit denen Jimmy sich auseinandersetzen muss.«
»Er hat mir erzählt, dass Sie früher Modistin waren. Vielleicht könnten Sie zu Hause wieder Hüte anfertigen, damit Sie ein bisschen Ablenkung haben und noch dazu Geld verdienen.«
»Das wäre eine Möglichkeit.« Belle lächelte ihn an. Sie mochte diesen Mann, seine Warmherzigkeit, Güte und praktische Art. Insgeheim schwor sie sich, nicht länger in Selbstmitleid zu versinken.
Jimmys Laune war deutlich besser geworden. Er strahlte Belle an, als sie in die Orangerie kam, und stellte sie mit unverhohlenem Stolz seinen drei Gefährten vor.
Fred, der knapp neunzehn war, hatte beide Beine verloren, Henry ein Bein, und Ernest war blind und aufgrund einer Verletzung der Wirbelsäule teilweise gelähmt. Belle unterhielt sich mit jedem von ihnen, fragte, woher sie kamen und wie lange sie in Haddon Hall bleiben würden. Alle drei stammten aus Südlondon, doch nur Ernest war schon seit über drei Monaten hier.
»Meine Leute kommen nicht damit zurecht, wenn ich daheim bin«, sagte er bemerkenswert fröhlich. »Aber ich will auch gar nicht nach Hause. Mir gefällt’s hier.«
Etwas später schob Belle Jimmy in seinem Rollstuhl in den Salon, damit sie ein wenig für sich sein konnten. Sie kniete sich neben den Stuhl und küsste ihn, und er reagierte darauf zum ersten Mal mit Enthusiasmus.
»Schon besser«, meinte sie und kauerte sich auf die Fersen. »Ich habe allmählich schon befürchtet, dass dieser Teil von Jimmy in Ypern geblieben ist.«
Er lächelte beschämt. »Ich war ein ziemlicher Idiot und viel zu sehr damit beschäftigt, mich selbst zu bemitleiden.«
»Dazu hattest du jedes Recht«, sagte sie. »Und jetzt erzähl mir, wie es dir hier ergangen ist!«
Während Belle ihm aufmerksam zuhörte, wurde ihr klar, dass es mehr als jede Therapie die Ruhe und der Frieden, die Wärme und Behaglichkeit waren, die Jimmys Stimmung verbessert hatten. Im Gegensatz zum Lazarett in Frankreich, wo ständig das Donnern der schweren Geschütze in der Ferne und die Jagdbomber über ihren Köpfen zu hören gewesen waren, gab es hier nur das Rauschen des Windes und das Zwitschern der Vögel, und gelegentlich hörte man, wie jemand Holz hackte.
Auch die Gesellschaft der anderen Patienten war hilfreich, weil einige von ihnen, zum Beispiel Ernest, viel schlimmer dran waren
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