Der Zauber eines fruehen Morgens
ihr Ärger in Luft auf. »Aber wir müssen uns alle noch ein wenig gedulden, bis wir wieder eine richtige Familie sind.«
Er kam zu ihr und zog sie an seine breite Brust. »Wenigstens haben wir dich wieder«, sagte er rau. »Du siehst mitgenommen aus und bist viel zu dünn, doch das kriegen Mog und ich schon wieder hin.«
Belle lehnte sich an ihn. Es war tröstlich, dass Garth nach wie vor ein unerschütterlicher Fels in der Brandung war, wie schlimm die Dinge auch stehen mochten. Welche Schwierigkeiten ihnen auch bevorstanden, Belle spürte, dass sie sie zusammen bewältigen würden.
In der ersten Woche daheim fühlte sich Belle völlig verloren. Sie hatte keine Beschäftigung; Mog kochte und putzte, Garth führte die Kneipe, und für sie blieb nichts zu tun übrig. Sie kramte ihre alten Kleider heraus und stellte beim Anprobieren fest, dass sie ihr alle zu weit waren, weil sie tatsächlich abgenommen hatte. Aber sogar ihre alten Lieblingsstücke wirkten jetzt zu bunt und mondän und ließen sie wie die unmoralische Frau aussehen, für die sie sich hielt.
An ihrem ersten Morgen in Blackheath wurde sie beim Bäcker geschnitten. Zwei Frauen, die sie flüchtig kannte, wandten sich bei ihrem Eintreten demonstrativ ab, als litte sie an einer ansteckenden Krankheit. Sie kaufte das Brot, das Mog haben wollte, und hörte beim Gehen, wie die beiden über sie sprachen.
»Was für eine Unverschämtheit, sich wieder hier blicken zu lassen!«, sagte die eine.
»Ihre arme Tante kann einem leidtun«, fügte die andere hinzu.
Auch wenn es sie Mühe kostete, ging Belle sofort hocherhobenen Hauptes zum Railway Inn zurück, innerlich jedoch war ihr zum Heulen zumute. Den Rest des Tages blieb sie im Haus und schützte Müdigkeit vor, statt zuzugeben, was passiert war.
Als sie später in ihrem Schlafzimmer am Fenster saß, dachte sie daran, wie glücklich Jimmy und sie gewesen waren, als sie dieses Zimmer kurz vor der Hochzeit gemeinsam hergerichtet hatten. Keiner von ihnen hatte jemals zuvor tapeziert, und eine ganze Tapetenrolle war draufgegangen, weil sie sie mit den Händen durchstießen, die Bahnen schief aufklebten oder das Papier einrissen, bevor sie den Dreh heraushatten. Aber sie hatten so sehr gelacht, weil ihnen die Vorstellung, sich ihr eigenes kleines Reich zu schaffen,Freude bereitet hatte. Belle konnte die Mängel sehen – Bahnen, wo das Muster nicht übereinstimmte, kleine Stellen, wo sich die Tapete von der Wand löste, hier und dort eine Blase, die sie übersehen hatten. Doch das hatte sie genauso wenig gekümmert wie die Tatsache, dass die Möbel aus zweiter Hand waren. Belle hatte die spitzenbesetzte Tagesdecke und die Vorhänge genäht, und Jimmy hatte den verschrammten Frisiertisch und den Schrank mit Sandpapier bearbeitet und beides frisch lackiert.
Ihr Hochzeitsbild stand jetzt wieder an seinem alten Platz auf dem kleinen Tisch neben dem Bett, eine weitere Erinnerung daran, wie sehr sie an jenem Tag daran geglaubt hatten, auch für sie würde es heißen »… und lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende«. Belle war erst dreiundzwanzig, und die Vorstellung, jahrelang in einem Ort zu leben, dessen Bewohner sie ablehnten und Jimmy bemitleideten, war einfach unerträglich.
Eine Woche nach Jimmys Aufnahme in Haddon Hall fuhr Belle ihn zum ersten Mal besuchen. Sie hatte sich mit ihrem Aussehen wirklich Mühe gegeben, weil sie glaubte, ihm damit eine Freude zu machen. Am Vortag hatte sie sich das Haar gewaschen und trug es in dem Stil, der ihm gefiel: aufgesteckt mit ein paar losen Locken, die um ihr Gesicht fielen. Sorgfältig hatte sie das rote Wollkostüm, das er ihr zu ihrem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest geschenkt hatte, geändert, damit es besser saß, und den Rock auf Knöchelhöhe gekürzt, wie sie es in einem Modejournal gesehen hatte. Auch den rot-blauen Hut hatte er immer besonders gerngehabt; er thronte in einem kecken Winkel schräg auf ihrem Kopf und musste gut befestigt werden. Über dem Kostüm trug Belle ihr marineblaues Cape mit Pelzkragen, weil es sehr kalt geworden war.
»Sie sehen hinreißend aus«, stellte Mr. Gayle fest, der vor dem Bahnhof auf sie wartete, und hielt ihr die Tür auf. »Das sollte Ihren Mann wirklich aufmuntern. Ist es schön, wieder daheim bei der Familie zu sein?«
»Ja. Obwohl es ein bisschen ungewohnt ist, so wenig zu tun zu haben. Die Zeit will und will einfach nicht vergehen. Aber das ändert sich bestimmt, wenn Jimmy nach Hause kommt.«
Der Wind
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