Der Zauber eines fruehen Morgens
sperrigen Taschen durch das Tor zwängte. Sie war immer noch vollständig bekleidet, und ihr Gesicht war aschfahl vor Angst.
»Es ist so heiß«, jammerte sie. »Und mir tut der Bauch weh.«
»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte Belle forsch. »Das bedeutet, dass es allmählich losgeht. Warum haben Sie Ihr Kleid noch an?«
»Ich komme nicht an die Knöpfe heran«, antwortete Miranda. »Zu Hause haben wir eine Zofe, die mir beim An- und Auskleiden hilft.«
»Hier gibt es leider keine Zofe«, erwiderte Belle und stellte die Taschen ab. Dann drehte sie Miranda um und knöpfte ihr Kleid auf. Das Korsett war so eng geschnürt, dass es ein Wunder war, dass Miranda überhaupt Luft bekam. Belle löste rasch die Schnüre. »Ziehen Sie auch alles andere aus!«, sagte sie und kramte in der Reisetasche nach dem Nachthemd, das sie mitgebracht hatte.
Miranda drehte sich um, als sie aus Unterkleid und Hemd schlüpfte, und Belle zuckte beim Anblick der roten Druckstellen leicht zusammen, die das Korsett auf dem nackten Rücken und um die Taille des Mädchens hinterlassen hatte. Sie zog Miranda das frische Nachthemd über den Kopf und wies sie an, auch Strümpfe und Unterhose auszuziehen.
»Ich wärme nachher etwas Wasser auf, damit Sie sich gründlich waschen können«, erklärte sie. »Aber jetzt setzen Sie sich erst einmal hin, während ich mich um Ihr Bett kümmere.«
Gegen neun Uhr abends war es wesentlich kühler. Miranda lag auf dem frisch bezogenen Bett, und Belle hatte sich einen der Sessel aus dem Laden geholt. Miranda hatte ein bisschen Suppe und Brotgegessen und wirkte etwas ruhiger, und im Licht der Lampe, die über Belles Arbeitstisch hing, wirkte das Hinterzimmer freundlich und anheimelnd.
»Erzählen Sie mir etwas über den Mann!«, bat Belle. Sie konnte sehen, dass jetzt in regelmäßigen Abständen Wehen kamen, aber laut Miranda waren sie einstweilen nicht schlimmer als die Krämpfe während ihrer Monatsblutungen. »Ist er ein Bekannter Ihrer Familie?«
Miranda hatte ihr schon erzählt, dass sie eins von vier Kindern war: Sie hatte zwei ältere Brüder, die beide verheiratet waren und selbst Familie hatten, und eine jüngere Schwester namens Amy, die zwanzig Jahre alt und mit einem Anwalt verlobt war. Miranda war dreiundzwanzig.
Als Belle sich früher am Abend erkundigt hatte, womit ihr Vater seinen Lebensunterhalt verdiene, hatte Miranda ein überraschtes Gesicht gemacht. »Lebensunterhalt?«, wiederholte sie. »Ihm gehört ein Besitz in Sussex. Haben Sie das gemeint?«
Woraus Belle schloss, dass Mr. Forbes-Alton sein Vermögen geerbt hatte und sich darauf beschränkte, ein Auge auf die Leute zu haben, die auf seinem Landsitz arbeiteten und ihm genug Geld einbrachten, um in London ein großes Haus zu führen. Miranda hatte erzählt, dass sie erst vor Kurzem aus Sussex zurückgekommen seien, wo sie sich einen Monat aufgehalten hatten, und dass sie in Panik geraten sei, als ihre Mutter hatte länger bleiben wollen. Schließlich war Miranda klar gewesen, dass sie so schnell wie möglich die Abtreibung vornehmen lassen musste.
»Nein, meine Familie kennt ihn nicht«, sagte sie. »Ich bin ihm im Frühling im Greenwich Park begegnet. Ich war allein spazieren und bin auf einer schlammigen Stelle ausgerutscht. Er half mir auf, und da ich mir den Knöchel verstaucht hatte, bot er an, mich nach Hause zu bringen. Er war so charmant, witzig, interessant und liebenswürdig! Meine Eltern versuchen schon seit Jahren, mich unter die Haube zu bringen, aber die Herren, die sie für passend halten, sind immer so ernst und langweilig!«
»Und ich könnte mir vorstellen, dass Sie nicht unbegleitet hätten spazieren gehen sollen?«, warf Belle ein.
Miranda lächelte schwach. »Nein. Mama wäre furchtbar böse geworden, wenn sie es gewusst hätte. Und ich konnte Frank nicht vorschlagen, mir einen Besuch abzustatten, weil wir nicht durch Freunde oder Verwandte miteinander bekannt gemacht worden waren. Deshalb mussten wir uns von Anfang an immer heimlich treffen.«
Belle hatte den Verdacht, dass Frank ein richtiger Mistkerl war. Er hatte Miranda skrupellos ausgenutzt. Da er gewusst hatte, dass es ihr nicht möglich war, ihn in ihr Elternhaus einzuladen, hatte er ihr alles Mögliche über sich selbst vorlügen können, ohne befürchten zu müssen, dass die Wahrheit ans Licht kam.
»Was hat er Ihnen von sich erzählt?«, wollte sie wissen.
»Nicht sehr viel. Was gab es schon zu erzählen? Ein Herr von Stand mit
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