Der Zauber eines fruehen Morgens
die diese Gemetzel nicht erlebt hatten, stellte sie sich vor, dass alle Gefallenen in ordentlichen Reihen aufgebahrt und später mit allen Ehren bestattet worden waren, nachdem man ihre Identität festgestellt und vermerkt hatte.
Noah wusste, dass die Wahrheit anders aussah: Unzählige Männer waren dermaßen von Granaten zerfetzt worden, dass ihre Körperteile in alle vier Windrichtungen geflogen waren. Andere hatten so tief im Schlamm gesteckt, dass sie darin versunken waren. Und wie ein ranghöherer Offizier Noah draußen an der Front erklärt hatte: »Sie sind tot. Wir können nichts mehr für sie tun, und wir müssen uns darauf konzentrieren, den Verwundeten zu helfen, die eine Chance haben zu überleben.«
Aber Lisette beharrte darauf, dass Etienne schwer verwundet in einem Lazarett liegen oder gefangen genommen sein könnte. Sie beschwor Noah, Belle einstweilen noch nichts zu sagen, im neuen Jahr jedoch unbedingt mehr Informationen einzuholen.
Noah und Lisette war sehr daran gelegen, die Wahrheit zu erfahren, bevor Belle und Mog ihre Überfahrt buchten. Aber die Tage verstrichen, und Noahs Bemühungen führten zu nichts. Er tätigteAnrufe und verfasste Dutzende schriftlicher Anfragen, doch seine Briefe blieben unbeantwortet, und am Telefon wurde er ständig zu jemand anders durchgestellt.
Dann buchte Belle die Passage nach Neuseeland, und nun, da der Tag ihrer Abreise näher rückte, redeten sie und Mog von nichts anderem als davon, dass sie einen Überseekoffer kaufen mussten und welche Kleider sie mitnehmen, welche sie hier zurücklassen sollten. Mog hatte genug Nähzubehör, Baumwollstoffe und Knöpfe gekauft, um die Hälfte der weiblichen Bevölkerung von Russell neu einzukleiden.
Heute hatte Noah ein Gespräch mit einem Mitarbeiter vom Roten Kreuz geführt, der sich mit Kriegsgefangenen befasste. Alles, was er sagte, war, dass Etienne wahrscheinlich eher tot als am Leben war, er aber dennoch der Sache nachgehen würde.
»In Frankreich herrscht ein einziges Chaos, Noah«, wandte Lisette beschwichtigend ein. »Es gibt so viele Männer, über deren Verbleib man nichts weiß. Einige Soldaten sind nach Hause gegangen, andere noch in der Armee geblieben. Doch deine Briefe werden bestimmt weitergeleitet und irgendwann bei jemandem landen, der weiß, was passiert ist.«
»Aber Belle verlässt England in einem Monat. Die Überfahrt ist gebucht. Was ist, wenn ich herausfinde, dass er noch lebt, und sie ist nicht mehr da?«
Noah glaubte nicht mehr, dass Etienne noch am Leben war. Ein gewöhnlicher Soldat konnte vielleicht untertauchen, wenn ihm daran gelegen war, doch Etienne war ein Kriegsheld, und irgendjemand würde es wissen, wenn er die letzte Offensive überlebt hätte.
Lisette ging zu Noah und legte ihre Arme um ihn. »Ist egal, wenn sie nicht mehr da ist. Wenn er lebt und nur halb der Mann ist, für den ich ihn halte, wird er losziehen und sich seine Belle holen«, sagte sie. »Und jetzt komm, damit du dein Abendessen bekommst!«
»Nicht weinen, mein Häschen«, meinte Mog zu Belle, als die HMS Stalwart den Anker lichtete und sich langsam von der Anlegestelle in Southampton entfernte. »Wenn es uns nicht gefällt, können wir jederzeit zurückkommen. Aber du und ich, wir sind aus hartem Holz geschnitzt. Wir bauen uns da unten schon ein schönes Leben auf, wirst sehen.«
Belle rieb sich die Augen und lächelte Mog an. »Ich bin nicht traurig, weil wir England verlassen. Ich werde Noah und Lisette und die Kinder vermissen, sonst jedoch niemanden. Nein, das hier erinnert mich nur an damals, als Miranda und ich nach Frankreich gefahren sind.«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie hatte an Miranda gedacht und sich erinnert, wie aufgeregt sie beide gewesen waren, als das Schiff in Dover ablegte. Aber was sie tatsächlich zum Weinen gebracht hatte, war die Erinnerung an die Reise von New York nach New Orleans mit Etienne. An ihrem sechzehnten Geburtstag hatte sie mit ihm ihr erstes Glas Champagner getrunken und geglaubt, in ihn verliebt zu sein, und versucht, ihn zu verführen. Es war wie eine Ironie des Schicksals, dass sie sich nun wieder auf einem Schiff befand, diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Auch wenn Etienne tot war, beherrschte er immer noch ihre Gedanken.
»Komm, packen wir unsere Sachen aus und richten uns in unserer Kajüte häuslich ein!«, schlug Mog vor. »Hier draußen ist es kalt wie in einem Eisbärenarsch.«
Belle musste lachen. Diesen Ausdruck hatte sie von Mog nicht
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