Der Zauber eines fruehen Morgens
vollkommener Stille und bei offenem Fenster, durch das eine l eichte Brise weht, oder an einem prasselnden Kaminfeuer zu sitzen und etwas anderes zu essen als Dosenfleisch.
Jimmy erwähnte in seinen Briefen immer wieder das unablässige Artilleriefeuer und seine Sehnsucht nach Stille, und Belle war durchaus bewusst, dass der Mann, den sie geheiratet hatte, nach dem Krieg vielleicht nicht mehr derselbe sein würde. Möglicherweise würde es ihr nicht gelingen, nach Frankreich zu gehen, doch die Arbeit in einem Lazarett vermittelte ihr wenigstens ein bisschen mehr Verständnis für alles, was Jimmy durchmachte.
Sowie Belle im Bett lag, dachte sie über den langen Tag nach, der hinter ihr lag. Die Oberschwester im Royal Herbert Military Hospital, eine schlanke, streng blickende Frau, hatte sie von oben bis unten gemustert, als Belle sich am Morgen auf ihrer Station gemeldet hatte. Belle trug das vorschriftsmäßige hochgeschlossene, knöchellange dunkelblaue Kleid mit weißen Manschetten und Kragen sowie Schürze und Häubchen, schien aber vor den Augen der Frau keine Gnade zu finden.
»Ihr Haar muss vollständig von Ihrer Haube bedeckt sein«, erklärte die Oberschwester kurz. »Sie tun genau das, was ich Ihnen sage, und wenn ich feststelle, dass Sie inkompetent sind, schicke ich Sie unverzüglich nach Hause.«
»Ja, Oberschwester«, antwortete Belle und stopfte die paar Locken, die entschlüpft waren, wieder unter das Häubchen. Der frostige Empfang erschütterte sie ein wenig. Sie hatte zwar nicht erwartet, Dank für ihre freiwilligen Hilfsdienste zu ernten, aber auch nicht damit gerechnet, wie ein Schulmädchen abgekanzelt zu werden.
Ihre erste Reaktion auf den Vierzig-Betten-Saal, dem sie zugewiesen wurde, war Überraschung, wie ordentlich und friedlich es hier war, wenn auch ein wenig düster, da die Fenster hoch oben und sehr schmal waren. Die meisten Patienten lagen in ihren Betten; ihre Kissen waren glatt gestrichen, die schneeweißen Decken akkurat zurückgeschlagen, doch anders als erwartet gab es keingepeinigtes Stöhnen oder Herumwälzen. Fast alle Augen richteten sich auf sie; ein paar der Patienten brachten sogar ein freches Grinsen zustande. Zwei Schwestern des Queen-Alexandra-Korps und zwei weitere Frauen – vermutlich Freiwillige wie sie selbst – hatten Dienst.
Die erste Aufgabe, die ihr zugeteilt wurde, bestand darin, den Saal zu verlassen und ein Bett zu reinigen, in dem in der vergangenen Nacht ein Soldat gestorben war. Das Desinfektionsmittel war so stark, dass Belles Hände brannten, und der Geruch erinnerte sie an New Orleans und das Mittel, mit dem die Mädchen dort die Geschlechtsteile ihrer Kunden gewaschen hatten. Der Gedanke, wie die Oberschwester reagieren würde, wenn sie das wüsste, entlockte ihr ein Lächeln.
Als sie fertig war, forderte Schwester Adams, eine sehr hagere, unscheinbare Frau Ende dreißig, die offenbar die Dienstaufsicht hatte, Belle auf, dabei zuzuschauen, wie Schwester May die Verbände wechselte.
Es war eine wahre Feuertaufe. Der erste Patient war von einer Granate erwischt worden. Was von seinem rechten Arm geblieben war, war amputiert worden, aber sein Oberkörper und seine rechte Seite waren eine einzige Masse aus zerfetztem und verbranntem Fleisch.
Belle empfand keinen Ekel, sie war nur fassungslos angesichts einer so grauenhaften Wunde, und wäre ihr aufgetragen worden, sie mit Kochsalzlösung zu reinigen, hätte sie nicht gewusst, wo sie anfangen sollte. Sie hätte Angst gehabt, dem Mann noch mehr wehzutun. Aber Gefreiter Lomax gab keinen Laut von sich, als Schwester May behutsam die Wunde abtupfte. Er heftete den Blick auf Belle und versuchte sogar, sich mit ihr zu unterhalten.
»Ihr erster Tag?«, fragte er.
Belle bejahte.
»Passen Sie gut auf, was Schwester May macht, sie ist die beste und vorsichtigste der Schwestern hier. Wie ich sehe, tragen Sie einen Ehering. Ist Ihr Mann in Frankreich?«
Wie Miranda gesagt hatte, wurden verheiratete Frauen nicht für den Pflegedienst angenommen. Belle hatte gelogen, was ihr Alter anging, und behauptet, sie wäre dreiundzwanzig, aber sie hatte zugegeben, dass sie verheiratet war. Bei ihrem Vorstellungsgespräch hatte man keinen Hehl daraus gemacht, dass sie nur genommen wurde, weil ihr Mann im aktiven Dienst war.
»Ja, er dürfte in der Nähe von Ypern sein. Er darf es natürlich nicht sagen, doch es gab in seinen Briefen ein paar kleine Hinweise.«
»Wir haben hier sehr viele Patienten, die dort
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