Der Zauber eines fruehen Morgens
Kerbholz. Komm, erzähl’s mir, und ich verspreche dir, bei deinem verrückten Plan, nach Frankreich zu gehen, mitzumachen.«
»Das ist nicht dein Ernst, oder?«, rief Belle. »Erbrochenes wegräumen und Verwundeten blutgetränkte Uniformen vom Leib schneiden?«
»Wild bin ich nicht gerade auf so etwas.« Miranda wand sich. »Aber ich könnte weiß Gott etwas Aufregung vertragen, und mir fällt niemand ein, mit dem ich mich lieber auf so ein Abenteuer einlassen würde, als du. Vielleicht könnte ich einen Rettungswagen fahren. Mein Vater hat alle möglichen Beziehungen, und wie du gerade ganz richtig bemerkt hast, könnten wir in einem der hiesigen Krankenhäuser Erfahrungen sammeln und vielleicht an einem Erste-Hilfe-Kurs teilnehmen.«
Belle wurde warm ums Herz. Sie glaubte nicht, dass es ganz so einfach war, wie es bei Miranda klang, doch die Vorstellung, etwas anderes, etwas wirklich Aufregendes zu machen, war verlockend und verscheuchte die Melancholie, die seit Langem auf ihr zu lasten schien.
»Du wärst also wirklich dabei?«
»Ja. Was habe ich schon zu verlieren? Du hast mir geholfen, als niemand sonst für mich da war. Ich weiß jetzt, dass du in Wirklichkeit die einzig wahre Freundin bist, die ich habe oder jemals gehabt habe. Alle anderen sind nicht mehr als Bekannte. Du bist anregend, witzig, freundlich, und du hast einen eisernen Kern, der mir das Gefühl gibt, selbst ein besserer und stärkerer Mensch zu sein.«
Das ehrliche Kompliment trieb Belle Tränen in die Augen. »Es könnte das größte Abenteuer von allen werden«, sagte sie leise. »Vielleicht größer und wesentlich lohnenswerter als alles andere, was ich je zuvor erlebt habe.«
»Und nun zu dem ›zuvor‹.« Miranda langte nach der Sherryflasche und füllte ihre Gläser. »Erzähl mir darüber!«
Belle erinnerte sich daran, wie sie sich an einem Nachmittag kurz vor Weihnachten besonders elend gefühlt und Mog gebeten hatte, Miranda auszurichten, dass sie nicht da wäre, falls sie vorbeikam. Miranda war gekommen, aber sie hatte sich nicht abwimmeln lassen, sondern darauf bestanden, Belle zu sehen. Als sie ins Wohnzimmer kam, setzte sie sich neben Belle auf die Couch und nahm sie einfach in die Arme.
Ihre Geste drückte unendlich viel Verständnis und Mitgefühl aus. Miranda zählte nicht all die Dinge auf, für die es sich zu leben lohnte, gab weder Plattitüden noch aufmunternde Sprüche von sich, sondern war einfach für Belle da, eine Schulter, an die sie sich anlehnen konnte, ein offenes Ohr und eine wahre Freundin, die Art Freundin, die keine Gegenleistung erwartete. Belle hatte das Gefühl, ihr vielleicht wirklich die Wahrheit zu schulden.
»Na schön, wenn wir das zusammen durchziehen wollen, solltest du lieber alles über mich wissen. Fangen wir gleich damit an, dass ich in einem Bordell geboren und aufgewachsen bin.«
Belle erzählte ihre Geschichte so schlicht und schnörkellos wie möglich: wie Millie ermordet und sie selbst von dem Mörder entführt und nach Frankreich in die Prostitution verkauft worden war. Als sie berichtete, wie Etienne sie in Marthas Freudenhaus in New Orleans gebracht hatte, fiel ihr auf, dass Miranda entsetzt die Augen aufriss, sich ansonsten jedoch nichts anmerken ließ.
»Da mir klar war, dass es für mich keine Möglichkeit gab, nach England zurückzukehren, beschloss ich, das Beste daraus zu machen und eine erstklassige Hure zu werden«, sagte sie. »Ich war die beste von allen, und manchmal habe ich es sogar genossen.«
Erst als sie zu dem Teil ihrer Geschichte kam, wie Pascal sie in einer Dachkammer seines Hauses auf dem Montmartre eingesperrt hatte, schnappte Miranda nach Luft.
»Wenn mir jemand anders so etwas erzählen würde, würde ich es für eine Räuberpistole halten«, meinte sie.
Belle fuhr damit fort, wie Etienne sie gerettet hatte, und schloss mit dem Prozess gegen Kent, in dem sie als Zeugin ausgesagt hatte.
»Was für eine haarsträubende Geschichte!«, rief Miranda. »Doch es erklärt ein paar Dinge an dir, die mir bisher rätselhaft waren. Ich bin wirklich froh, dass du mir das anvertraut hast.«
»Ich auch«, gab Belle zu. »Weißt du, ich wollte dir etwas erzählen, was am Tag von Newbolds Verhandlung im Gericht passiert ist, konnte es aber nicht, weil du nichts von meiner Vergangenheit wusstest. Ein Reporter hat mich dort angesprochen. Er kannte meinen Mädchennamen, und ich glaube, er war bei dem Prozess gegen Kent dabei und weiß einiges über meine
Weitere Kostenlose Bücher