Der Zauber Von Avalon 02 - Im Schatten der Lichtertore
zu unterscheiden, was glaubwürdig ist. Nun, ich habe gehört, dass Kulwych das, was vom Adlervolk gestohlen wurde, zum Bezahlen all der Waffen benutzt, die er für eine Eroberungsarmee braucht.«
Scree zog eine Grimasse. Eine Armee – die nicht nur Weißhand, sondern Rhita Gawr dienen würde! Das musste er Tam erzählen. Aber wie? Sein Bruder war schon unterwegs und bald würde er irgendwo tief im Stamm des großen Baums sein, einer Region, die wahrscheinlich viele Male größer war als alle sieben Wurzelländer zusammen. Und das war noch nicht alles: Sobald Tam seinen Weg in den Stamm gefunden hatte, würde er nach einer unbekannten Route suchen – falls eine solche Route tatsächlich existierte –, die ihn hinauf zu den Ästen und dann zu den Sternen brachte. Bald würde er schwieriger zu finden sein als eine weiße Feder in einer Wolke!
Verzweifelt stöhnte Scree auf. Denn selbst wenn er wüsste, wo Tam zu finden war, was könnte er tun? Er war zu schwach, auch nur aufzustehen; die geflügelte Gestalt anzunehmen und zu fliegen kam gar nicht in Frage.
»Hier, Scree, versuch das.« Arc-kaya hielt ihm einen Federkiel an den Mund. Etwas, das aussah wie zerdrückte Erdbeeren, tropfte herab. »Das hilft dir zu entspannen.«
Ziemlich misstrauisch leckte er an dem Kiel. Es schmeckte süß wie Kleehonig, also leckte er mehr. Sekunden nachdem er geschluckt hatte, schien dichter Nebel in seinen Kopf zu wehen und seine Gedanken zu trüben. Bald fiel er in einem traumlosen Schlaf.
Nachdem er viele Stunden später erwacht war, stützte Arc-kaya ihm den Kopf und fütterte ihn löffelweise mit einer dünnen, scharfen Brühe. In den nächsten Tagen wich sie fast nie von seiner Seite und verließ nur kurz das Nest, wenn sie zur Kochstelle der Gemeinde gehen und sich ein Gerät oder eine Zutat besorgen musste, die sie brauchte.
Scree beobachtete mit wachsender Bewunderung, wie großzügig sie sich einsetzte. Wenn sie nicht seinen Verband wechselte, neue Umschläge machte oder seine Beinmuskeln massierte, verfertigte sie Tränke, Salben oder Schienen für die unterschiedlichen anderen Adlermenschen, die in ihr Nest kamen. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit hieß sie junge und alte Dorfbewohner willkommen, ob sie an einer Allergie gegen Wieselpelz, geschwollenen Klauen, infizierten Wunden oder schlimmen Träumen litten. Sie behandelte alle mit Sorgfalt und Geduld, selbst wenn Scree versucht war, die Hilfesuchenden heftig zu beschimpfen, weilsie ihn und Arc-kaya aus tiefem Schlaf geweckt hatten. Und wenn ein Patient nicht zahlen konnte, winkte sie nur ab und sagte: »Bring mir einfach eine Feder oder zwei, wenn du kannst.«
Mit der Zeit wurde Scree so kräftig, dass er zu ihrem Tisch hinüberhumpeln und ihr bei der Zubereitung von Arzneien helfen konnte. Er schnitt Kräuter, Wurzeln und Rindenfasern mit ihren Feuersteinmessern, zerstampfte Samen in ihrem Mörser und (seine liebste Aufgabe) knackte Korbladungen von Nüssen mit ihrem Quarzhammer. Er lernte die Herstellung von Knochenmarkpaste, Zitronenbalsam und Saft aus Karotten und Anissamen gegen Husten der Kinder. Die ganze Zeit sprach er mit Arc-kaya über das Dorfleben und die Geschichte ihres Clans – aber nie über den Lieben, den sie verloren hatte.
Endlich, am neunten Tag, hatte er sich so weit erholt, dass er mit ihr aus dem Nest steigen konnte. Gemeinsam besuchten sie die Kochstelle, wo er sah, wie Adlermenschen kräftige Wildbrühe zubereiteten, federleichte Gerstenkuchen backten und Binsen einweichten, um daraus Körbe und Matten zu flechten. Auf dem Dorfmarkt betrachtete Arc-kaya zahlreiche getrocknete Kräuter und Blumen, kaufte aber nur ein Bündel Hagebutten. Auf dem Heimweg blieben sie stehen und schauten Kindern zu, die Fangen spielten, und es sah so lustig aus, dass Scree am liebsten mitgemacht hätte, wenn er schon stark genug gewesen wäre.
Weitere Tage vergingen. Als Scree kräftiger wurde, unternahm er allein Spaziergänge rund ums Dorf. Er begegneteAdlermenschen, die ihre Geschicklichkeit bei Krallenkämpfen trainierten, ein rauer Sport, der häufig Männer und Frauen zu Arc-kayas Patienten machte. Er entdeckte Handwerker mit der Fertigkeit, reizvolle Bilder mit Federn auf polierte Eierschalen zu malen, Schmuck aus violetten Amethysten und roten Rubinen zu meißeln und die verschiedensten Werkzeuge aus sonnengetrockneten Knochen und Kristallen vom Berghang herzustellen. Doch mehr als alles andere genoss er das warme Willkommen, mit dem ihn Arc-kaya
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