Der Zauberberg
»schlecht« nicht umsonst, und Hans Castorp versicherte sich selbst, er habe nur ein Achselzucken {348} für irgendeinen Propagandisten der Republik und des schönen Stils, der, hochnäsig und nüchtern – namentlich nüchtern, obgleich auch er febril und beschwipst war –, die beiden Tischgesellschaften unter dem Namen von Parthern und Skythen zusammenfaßte. Wie es gemeint war, verstand der junge Hans Castorp sehr weitgehend, er hatte ja auch angefangen, sich auf die Zusammenhänge von Frau Chauchats Krankheit mit ihrer »Lässigkeit« zu verstehen. Aber es verhielt sich, wie er selbst eines Tages zu Joachim gesagt hatte: man beginnt mit Ärgernis und Abstandsgefühlen, auf einmal aber »kommt ganz anderes dazwischen«, was »mit Urteilen gar nichts zu tun hat«, und die Sittenstrenge hat ausgespielt, – man ist pädagogischen Einflüssen republikanischer und eloquenter Art kaum noch zugänglich. Was ist aber das, fragen wir, wahrscheinlich auch in Lodovico Settembrinis Sinn, was ist das für ein fragwürdiges Zwischenkommnis, das des Menschen Urteil lahmlegt und ausschaltet, ihn des Rechtes darauf beraubt oder vielmehr ihn bestimmt, sich dieses Rechtes mit unsinnigem Entzücken zu begeben? Wir fragen nicht nach seinem Namen, denn diesen kennt jeder. Wir erkundigen uns nach seiner moralischen Beschaffenheit, – und erwarten, offen gestanden, keine sehr hochgemute Antwort darauf. In Hans Castorps Fall bewährte sich diese Beschaffenheit in dem Grade, daß er nicht allein aufhörte, zu urteilen, sondern auch begann, mit der Lebensform, die es ihm angetan, seinerseits Versuche anzustellen. Er versuchte, wie es sei, wenn man bei Tische zusammengesunken, mit schlaffem Rücken dasäße, und fand, daß es eine große Erleichterung für die Beckenmuskeln bedeute. Ferner probierte er es, eine Tür, durch die er schritt, nicht umständlich hinter sich zu schließen, sondern sie zufallen zu lassen; und auch dies erwies sich sowohl als bequem wie als angemessen: es entsprach im Ausdruck jenem Achselzucken, mit dem Joachim ihn seinerzeit gleich am Bahnhof begrüßt, und das er seitdem so oft bei Denen hier oben gefunden hatte.
{349} Schlicht gesagt, war unser Reisender nun also über beide Ohren in Clawdia Chauchat verliebt, – wir gebrauchen nochmals dies Wort, da wir dem Mißverständnis, das es erregen könnte, hinlänglich vorgebeugt zu haben meinen. Freundlich gemütvolle Wehmut im Geist jenes Liedchens war es also nicht, was das Wesen seiner Verliebtheit ausmachte. Vielmehr war das eine ziemlich riskierte und unbehauste Abart dieser Betörung, aus Frost und Hitze gemischt wie das Befinden eines Febrilen oder wie ein Oktobertag in oberen Sphären; und was fehlte, war eben ein gemüthaftes Mittel, das ihre extremen Bestandteile verbunden hätte. Sie bezog sich einerseits mit einer Unmittelbarkeit, die den jungen Mann erblassen ließ und seine Gesichtszüge verzerrte, auf Frau Chauchats Knie und die Linie ihres Beines, auf ihren Rücken, ihre Nackenwirbel und ihre Oberarme, von denen die kleine Brust zusammengepreßt wurde, – mit einem Worte auf ihren Körper, ihren lässigen und gesteigerten, durch die Krankheit ungeheuer betonten und noch einmal zum Körper gemachten Körper. Und sie war andererseits etwas äußerst Flüchtiges und Ausgedehntes, ein Gedanke, nein, ein Traum, der schreckhafte und grenzenlos verlockende Traum eines jungen Mannes, dem auf bestimmte, wenn auch unbewußt gestellte Fragen nur ein hohles Schweigen geantwortet hatte. Wie jedermann, nehmen wir das Recht in Anspruch, uns bei der hier laufenden Erzählung unsere privaten Gedanken zu machen, und wir äußern die Mutmaßung, daß Hans Castorp die für seinen Aufenthalt bei Denen hier oben ursprünglich angesetzte Frist nicht einmal bis zu dem gegenwärtig erreichten Punkt überschritten hätte, wenn seiner schlichten Seele aus den Tiefen der Zeit über Sinn und Zweck des Lebensdienstes eine irgendwie befriedigende Auskunft zuteil geworden wäre.
Im übrigen fügte seine Verliebtheit ihm all die Schmerzen zu und gewährte ihm all die Freuden, die dieser Zustand überall {350} und unter allen Umständen mit sich bringt. Der Schmerz ist durchdringend; er enthält ein entehrendes Element, wie jeder Schmerz, und bedeutet eine solche Erschütterung des Nervensystems, daß er den Atem verschlägt und einem erwachsenen Manne bittere Tränen entpressen kann. Um auch den Freuden gerecht zu werden, so waren sie zahlreich und, obgleich aus
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