Der Zauberberg
unscheinbaren Anlässen entstehend, nicht weniger eindringlich als die Leiden. Fast jeder Augenblick des Berghof-Tages war fähig, sie zu zeitigen. Zum Beispiel: im Begriff, den Speisesaal zu betreten, bemerkt Hans Castorp den Gegenstand seiner Träume hinter sich. Das Ergebnis ist im voraus klar und von größter Simplizität, aber innerlich entzückend bis zu ebenfalls tränentreibender Wirkung. Ihre Augen begegnen sich nahe, die seinen und ihre graugrünen, deren leicht asiatischer Sitz und Schnitt ihm das Mark bezaubern. Er ist besinnungslos, aber auch ohne Besinnung tritt er seitlich zurück, um ihr zuerst den Weg durch die Tür freizugeben. Mit halbem Lächeln und einem halblauten »Merci« macht sie Gebrauch von seinem nicht mehr als gesitteten Anerbieten, geht vorbei und hindurch. Im Hauch ihrer vorüberstreichenden Person steht er, närrisch vor Glück über das Zusammentreffen und darüber, daß ein Wort ihres Mundes, nämlich das Merci, ihm direkt und persönlich gegolten. Er folgt ihr, er schwankt rechtshin zu seinem Tische, und indem er auf seinen Stuhl sinkt, darf er wahrnehmen, daß »Clawdia« drüben, ebenfalls Platz nehmend, sich nach ihm umblickt, – mit einem Ausdruck des Nachdenkens über die Begegnung an der Tür, wie ihm scheint. O unglaubwürdiges Abenteuer! O Jubel, Triumph und grenzenloses Frohlocken! Nein, diesen Rausch phantastischer Genugtuung hätte Hans Castorp nicht erprobt bei dem Blick irgendeines gesunden Gänschens, dem er drunten im Flachlande erlaubter-, friedlicher- und aussichtsreicherweise, im Sinne jenes Liedchens, »sein Herz geschenkt« hätte. Mit fiebriger Aufgeräumtheit be {351} grüßt er die Lehrerin, die alles gesehen hat und flaumig errötet ist, – worauf er Miß Robinson mit englischer Konversation von solcher Sinnlosigkeit berennt, daß das Fräulein, im Ekstatischen nicht bewandert, sogar zurückprallt und ihn mit Blicken voller Befürchtungen mißt.
Ein andermal fallen beim Abendessen die Strahlen der klar untergehenden Sonne auf den Guten Russentisch. Man hat die Vorhänge vor die Verandatüren und Fenster gezogen, aber irgendwo klafft da ein Spalt, und durch ihn findet der rote Schein kühl, aber blendend seinen Weg und trifft genau Frau Chauchats Kopf, so daß sie, im Gespräch mit dem konkaven Landsmann zu ihrer Rechten, sich mit der Hand dagegen schützen muß. Das ist eine Belästigung, aber keine schwere; niemand kümmert sich darum, die Betroffene selbst ist sich der Unbequemlichkeit wohl nicht einmal bewußt. Aber Hans Castorp sieht es über den Saal hinweg, – auch er sieht es eine Weile mit an. Er überprüft die Sachlage, verfolgt den Weg des Strahles, stellt den Ort seines Einfalles fest. Es ist das Bogenfenster dort hinten rechts, in der Ecke zwischen der einen Verandatür und dem Schlechten Russentisch, weit von Frau Chauchats Platze entfernt und fast genau ebensoweit von dem Hans Castorps. Und er faßt seine Entschlüsse. Ohne ein Wort steht er auf, geht, seine Serviette in der Hand, schräg zwischen den Tischen hin durch den Saal, schlägt da hinten die cremefarbenen Vorhänge gut übereinander, überzeugt sich durch einen Blick über die Schulter, daß der Abendschein ausgesperrt und Frau Chauchat befreit ist – und begibt sich unter Aufbietung vielen Gleichmutes auf den Rückweg. Ein aufmerksamer junger Mann, der das Notwendige tut, da sonst niemand darauf verfällt, es zu tun. Die wenigsten hatten auf sein Eingreifen geachtet, aber Frau Chauchat hatte die Erleichterung sofort gespürt und sich umgeblickt, – sie blieb in dieser Haltung, bis Hans Castorp seinen Platz wieder erreicht hatte und, sich setzend, zu ihr {352} hinübersah, worauf sie mit freundlich erstauntem Lächeln dankte, das heißt: ihren Kopf mehr vorschob als neigte. Er quittierte mit einer Verbeugung. Sein Herz war unbeweglich, es schien überhaupt nicht zu schlagen. Erst später, als alles vorüber war, begann es zu hämmern, und da bemerkte er erst, daß Joachim die Augen still auf seinen Teller gerichtet hielt, – wie ihm auch nachträglich deutlich wurde, daß Frau Stöhr Dr. Blumenkohl in die Seite gestoßen hatte und überall am eigenen Tische und an den anderen mit geducktem Lachen nach mitwissenden Blicken suchte …
Wir schildern Alltägliches; aber das Alltägliche wird sonderbar, wenn es auf sonderbarer Grundlage gedeiht. Es gab Spannungen und wohltätige Lösungen zwischen ihnen, – oder wenn nicht zwischen ihnen (denn wie weit Madame Chauchat
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