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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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es ihr erlaubten, während die größeren Kinder die Volksschule besuchten. Wenn aber die geistigen Darreichungen dieser Anstalt der Verfassung und den Bedürfnissen von Leos Geschwistern hatten genügen mögen, so war, was ihn selbst, den Ältesten betraf, dies bei weitem nicht der Fall gewesen. Von der Mutter hatte er den Keim der Brustkrankheit, vom Vater aber, außer der Zierlichkeit der Gestalt, einen außerordentlichen Verstand geerbt, Geistesgaben, die sich früh mit hoffärtigen Instinkten, höherem Ehrgeiz, bohrender Sehnsucht nach vornehmeren Daseinsformen verbanden und ihn über die Sphäre seiner Herkunft leidenschaftlich hinausstreben ließen. Neben der Schule hatte der Vierzehn- und Fünfzehnjährige durch Bücher, die er sich zu verschaffen gewußt, seinen Geist auf regellose und ungeduldige Weise fortgebildet, seinem Verstand Nährstoff zugeführt. Er dachte und äußerte Dinge, die seine hinkränkelnde Mutter veranlaßten, den Kopf {666} schief zwischen die Schultern zu ziehen und beide abgezehrten Hände emporzuspreizen. Durch sein Wesen, seine Antworten fesselte er im Religionsunterricht die Aufmerksamkeit des Kreisrabbiners, eines frommen und gelehrten Menschen, der ihn zu seinem Privatschüler machte und seinen formalen Trieb mit hebräischem und klassischem Sprachunterricht, seinen logischen mit mathematischer Anleitung sättigte. Dafür aber hatte der gute Mann recht schlimmen Dank geerntet; es stellte sich je länger je mehr heraus, daß er eine Schlange an seinem Busen genährt hatte. Wie einst zwischen Elia Naphta und seinem Rabbi, so ging es nun hier: man vertrug sich nicht, es kam zwischen Lehrer und Schüler zu religiösen und philosophischen Reibereien, die sich immer verschärften, und der redliche Schriftgelehrte hatte unter der geistigen Aufsässigkeit, der Krittel- und Zweifelsucht, dem Widerspruchsgeist, der schneidenden Dialektik des jungen Leo das Erdenklichste zu leiden. Hinzu kam, daß Leos Spitzfindigkeit und geistiges Wühlertum neuestens ein revolutionäres Gepräge angenommen hatten: die Bekanntschaft mit dem Sohn eines sozialdemokratischen Reichsratsmitgliedes und mit diesem Massenhelden selbst hatte seinen Geist auf politische Pfade gelenkt, seiner logischen Leidenschaft eine gesellschaftskritische Richtung gegeben; er führte Reden, die dem guten Talmudisten, dem die eigene Loyalität teuer war, die Haare zu Berge steigen ließen und dem Einvernehmen zwischen Lehrer und Schüler den Rest gaben. Kurz, es war dahin gekommen, daß Naphta von dem Meister verstoßen, auf immer seines Studierzimmers verwiesen worden war, und zwar gerade um die Zeit, als seine Mutter, Rahel Naphta, im Sterben lag.
    Damals aber auch, unmittelbar nach dem Verscheiden der Mutter, hatte Leo die Bekanntschaft des Paters Unterpertinger gemacht. Der Sechzehnjährige saß einsam auf einer Bank in den Parkanlagen des sogenannten Margarethenkopfes, einer {667} Anhöhe westlich des Städtchens, am Ufer der Ill, von wo man einen weiten und heiteren Ausblick über das Rheintal genoß, – saß dort, verloren in trübe und bittere Gedanken über sein Geschick, seine Zukunft, als ein spazierendes Mitglied des Lehrkörpers vom Pensionat der Gesellschaft Jesu, genannt »Morgenstern«, neben ihm Platz nahm, seinen Hut neben sich legte, ein Bein unter dem Weltpriesterkleid über das andere schlug und nach einiger Lektüre in seinem Brevier eine Unterhaltung begann, die sich sehr lebhaft entwickelte und für Leos Schicksal entscheidend werden sollte. Der Jesuit, ein umgetriebener Mann von gebildeten Formen, Pädagog aus Passion, ein Menschenkenner und Menschenfischer, horchte auf bei den ersten höhnisch klar artikulierten Sätzen, mit denen der armselige Judenjüngling seine Fragen beantwortete. Eine scharfe und gequälte Geistigkeit wehte ihn daraus an, und weiterdringend stieß er auf ein Wissen und eine boshafte Eleganz des Denkens, die durch das abgerissene Äußere des jungen Menschen nur noch überraschender wurde. Man sprach von Marx, dessen »Kapital« Leo Naphta in einer Volksausgabe studiert hatte, und kam von ihm auf Hegel, von dem oder über den er ebenfalls genug gelesen, um einiges Markante über ihn äußern zu können. Sei es aus allgemeinem Hang zur Paradoxie oder aus höflicher Absicht, – er nannte Hegel einen »katholischen« Denker; und auf die lächelnde Frage des Paters, wie das begründet werden könne, da doch Hegel als preußischer Staatsphilosoph wohl recht eigentlich und wesentlich

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