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Der Zauberstein von Brisingamen

Der Zauberstein von Brisingamen

Titel: Der Zauberstein von Brisingamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Garner
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Gowther in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte.
    Eine flache Furche von zwei Meter Breite zog sich durch den Schnee, und in der Mitte dieser Furche waren Abdrücke von nackten Füßen. Jeder Fuß bestand aus einem spitzen großen Zeh, der durch einen tiefen Spalt von dem einzelnen Keil getrennt war, der sich an der Stelle befand, wo normalerweise die anderen vier Zehen gewesen wären. Die Abdrücke waren gleichmäßig voneinander entfernt – drei Meter auseinander.
    «Schnell!», keuchte Fenodyree. «Hoffentlich kommen wir noch rechtzeitig!» Sein Schwert zog er nicht.
    «Ich habe richtigen Schneedurst», sagte Susan. «Lieber als alles andere hätte ich jetzt einen Eimer Milch.»
    «Oh nicht», stöhnte Colin. «Ein Eimer würde mir nicht genügen!»
    Das Bachwasser war zum Trinken zu kalt. Es betäubte ihre Kehlen und verursachte ihnen Zahnschmerzen. Und ihre Münder waren trocken und pelzig vor Erschöpfung.
    Sie sprachen wenig, die Unterhaltung war schon vor langem erstorben. Es machte einfach zu viel Mühe. Sie bewegten sich nur, wenn Krämpfe und Erstarrung es erforderten.
    Nachdem Gowther und Fenodyree etwa zwanzig Minuten lang weg gewesen waren, war Susan, die in allen Gliedern ein stechendes Prickeln zu spüren begann, aufgestanden, um herumzustapfen und mit den Armen um sich zu schlagen. Sie wollte sich eben wieder hinkauern, als sie ein leises Rascheln hörte, als ob jemand durch den Schnee gewatet käme. Da sie glaubte, die anderen kehrten zurück, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um aus der Senke herauszuspähen. Dadurch waren ihre Augen etwa auf Bodenhöhe, und in diesem Augenblick zog ein Windstoß den Schneeschleier beiseite.
    Eine Sekunde darauf war die Bö vorüber, und der Schleier fiel wieder an seinen Platz zurück, aber in dieser Sekunde hatten Susans Augen jede Einzelheit des Wesens erfasst, das da zehn Meter von ihrem Versteck entfernt vorüberging.
    Es hatte einige Ähnlichkeit mit einer Frau, einer übel gestalteten, sechs Meter großen und grünen Frau. Ihr langer, stämmiger Rumpf ruhte auf massiven Beinen mit runden, dicken Oberschenkeln. Die Arme waren zu kurz, an den Schultern muskulös, aber spitz zulaufend in schwächliche, formlose Hände. Der Kopf war sehr klein und eirund, kaum breiter als der Hals, auf dem er saß. Keine Haare, der Mund ein dunkler Strich, die Nase ragte jäh zwischen Augen, die nicht mehr als trübe Schmutzflecken waren. Sie trug nur ein Kleidungsstück, einen weiten Mantel, der bis zum Boden reichte und wie eine faltige nasse Leinwand an ihrem Körper hing. Die Haut schimmerte matt, und der Mantel, von gleicher Farbe und Struktur, hätte aus demselben Material sein können.
    Eine Statue aus poliertem Kupferspat – aber eine Statue, die sich bewegte.
    Susan wollte schreien, doch ehe der Ton über ihre Lippen kam, legte sich schnell eine raue Hand über ihren Mund, und Durathror zog sie in den Schnee hinunter.
    «Bleib still liegen!»
    Eine Zeit lang überlagerte das Beben der Erde unter den schwerfälligen Schritten noch ihr Herzpochen, dann verklangen sie allmählich.

    «Hast du das gesehen?», flüsterte sie.
    «Ich habe es gesehen. Wir müssen meinen Vetter suchen. Das nächste Mal haben wir vielleicht kein Glück.»
    «Was ist los? Stimmt was nicht?», fragte Colin vom Fuß der Böschung. Doch während er noch sprach, taumelte Fenodyree, und dicht hinter ihm Gowther, aus dem Dunkel und packte Durathror am Arm.
    «Mara!»
    «Sie kam gerade hier vorbei», sagte Durathror, «hat uns aber nicht gesehen: Dafür ist es noch zu hell.»
    «Dann hat sie unsere Spuren nicht bemerkt. Kommt: Wir haben einen Unterschlupf gefunden.»
    «Was stehen wir dann noch rum?»
    So schnell sie es wagten, schlichen sie das Tal hinunter.
    «Ist deine Neugier jetzt befriedigt, Bauer Mossock?», fragte Fenodyree, nachdem Susan atemlos beschrieben hatte, was sie gesehen hatte.
    «Oh ja, allerdings! Aber wer um alles in der Welt ist das?»
    «Es sind Troll-Frauen, aus Felsen geboren, und Felsen werden sie wieder, wenn die Sonne sie je über dem Erdboden erwischt. Nachts aber sind sie unzerstörbar und allmächtig.
    Jetzt kann uns nur unser Verstand vor ihnen retten, und ihr könnt dankbar sein, dass wir davon mehr besitzen als sie, denn das Hirn der Maras ist so klein wie ihre Stärke groß ist.»
    Die Worte waren ihm kaum aus dem Mund, als hinter ihnen, wie die klägliche Stimme eines Nachtvogels, doch kalt und erbarmungslos wie die Fangzähne einer Gebirgswildkatze,

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