Der Zauberstein von Brisingamen
entdeckt? Jeder Blinde hätte sich denken können, wo wir sind. Unsere Fußspuren müssen doch am Wasser aufgehört haben.»
«Aber die Maras sind im Denken blind», sagte Fenodyree.
«Sie sollten einzig unseren Fußstapfen folgen, und als die aufhörten, war die Spur verloren. Auf dem See regte sich nichts, Spuren waren keine da. Also gab’s nichts zu finden. So arbeitet ihr Verstand. Sie werden jetzt bis zur Morgendämmerung umherziehen; wollen wir hoffen, dass heute Nacht nur wenige Menschen draußen sind.»
«Ja, aber sie wussten doch, dass wir irgendwo in der Nähe sein mussten», wandte Susan ein. «Warum haben sie diese Insel nicht untersucht?»
«Tja, sie haben’s einfach nicht gewusst: Sie haben uns doch nie gesehen. Sie haben nur Spuren gesehen, die am Wasser aufhörten. Den Maras gibt das kein Rätsel auf: Sie denken nicht weiter, als ihre Augen reichen, und ich denke, diese Insel ist ihren Augen verborgen.»
«Ach wirklich?», sagte Gowther heftig. «Das überrascht mich ganz und gar nicht! Vielleicht kannst du uns mal erklären, wie wir hier hingekommen sind, ohne uns die Füße nass zu machen, und – wie wir wieder an Land kommen sollen!»
«Ich zweifle nicht daran, dass wir bei Sonnenaufgang von hier weggehen werden», sagte Fenodyree, «und bis dahin gut und sicher schlafen werden. Dies ist die Insel von Angharad Goldenhand, der Herrin des Sees; es ist eine der beiden schwimmenden Inseln von Logris. Sie ankerte am Ufer, als Angharad unsere Füße hierher lenkte. Nichts Böses wird uns hier bedrohen. Eine Nacht lang dürfen wir in Frieden schlafen, und die Herrin wird über uns wachen.»
«Sehr tröstlich!», sagte Gowther. Schmelzender Schnee lief ihm in den Kragen, und er war müde. «Aber wo ist denn deine
‹Herrin›? Ich seh nichts als Schnee und Bäume, und ich bezweifle, dass das ‘n warmes Bett abgeben wird!»
«Sie ist hier, auch wenn wir sie nicht sehen, und wir stehen unter ihrem Schutz. Jetzt müssen wir etwas essen und dann schlafen.»
Ihr Abendessen bestand aus einem Brocken Brot und einem Mund voll Käse, mit Schnee hinuntergespült. Damit konnten sie gerade den schlimmsten Hunger stillen, aber mehr durften sie sich nicht gestatten. Auf diese Weise bekamen die Kinder zum ersten Mal zu spüren, was eiserne Rationen waren, und Colin wünschte, er hätte noch etwas von der Schokolade übrig, die er am Tag so gedankenlos verschlungen hatte.
Hungrig, nass, frierend und ungeheuer durstig rollte Susan sich zwischen den Wurzeln eines Baums zusammen. Die Segeltuchbahn war eher lästig denn eine Wohltat. Eine lange, elende Nacht lag vor ihr. Sie würde nie einschlafen können.
Aber das tat sie doch und überraschend schnell. Eine wohlige Schlaffheit breitete sich in ihren Gliedern aus. Ihr Verstand sagte ihr, sie solle sich dagegen wehren, aber das konnte sie nicht. So ist es, wenn man erfriert. Nun ja, da kann man jetzt nichts machen. Und es ist das… erste… Mal seit Jahren…
Jahren… dass mir warm ist… Der Schnee auf ihrer Wange war ein Kissen aus Schwanendaunen. Gowther und Colin wälzten sich noch oft erschöpft und unbehaglich herum, aber das hörte sie bald nicht mehr. Susan schlief.
Sie hatte einen sonderbaren Traum. Das meiste davon schien nur ein Gemisch aller ihrer wachen Gedanken und Wünsche zu sein, diffus und unzusammenhängend, genauso schwer festzuhalten wie ein Spiegelbild auf einer sich kräuselnden Wasseroberfläche. Und dann fügten sich über weite Strecken die Personen, Stimmen und Episoden ihrer tanzenden Gedanken zusammen und wurden so lebendig, so konkret, dass sie überhaupt nichts Traumhaftes mehr an sich hatten. Doch löste sich das Bild stets nach einer Weile wieder auf. Es glich einem Gemälde, auf dem sich die Pinselstriche von der Leinwand lösten und wie vereinzelte Farbfetzen fortschwebten, nur um sich wieder neu zusammenzusetzen und die Szene an einem späteren Zeitpunkt wieder aufzugreifen.
Der rote Faden in Susans Traum aber war dies: Sie saß im Schneidersitz mit Colin, Gowther und den Zwergen unter den Bäumen der Insel. Vor ihnen stand goldenes Geschirr, auf dem sich Speisen und Gewürze, Obst und kühle grüne Kresse türmten. Redesmere gleißte blau im Licht des Hochsommers.
Stromkarls spielten lachend im Wasser, andere lauschten dem Gesang von Angharad Goldenhand. Sie saß zwischen den Kindern, in ein Kleid aus weißem Leinen gehüllt. Sie war groß und schlank und schön, ihr langes geflochtenes Haar war rotgolden, und um
Weitere Kostenlose Bücher