Der Zauderberg
wenn er im Westen gern als anspruchslose Wohlfühlreligion missverstanden wird. Seit den ältesten buddhistischen Schriften des Pali-Kanon, die im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung aufgezeichnet wurden, ist die Botschaft klar und eindeutig. 29 Der in den Vereinigten Staaten lebende Lama Surya Das erklärt beispielsweise: »Wir müssen aufhören, aufzuschieben und so zu tun, als hätten wir ewig Zeit, um das zu tun, was wir wollen, und das zu sein, wonach wir uns sehnen.« 30
Doch die Religion, die am schärfsten mit der Trägheit ins Gericht geht, ist das Christentum. Unzählige Prediger wettern gegen sie, was unter anderem damit zusammenhängt, dass die Religion von ihren Gläubigen Umkehr und Reue fordert. 16a Selbst wenn die Gläubigen ein sündiges und selbstsüchtiges Leben geführt haben, können sie noch auf dem Sterbebett um Vergebung bitten und erlöst werden – sie tun gewissermaßen auf den letzten Drücker noch etwas für die letzte große Prüfung vor dem Jüngsten Gericht.
Die Religionen beschäftigen sich deshalb so sehr mit der Aufschieberei, weil wir nicht wissen, wann wir sterben werden. Deshalb müssen wir sofort umkehren, ein gottgefälliges Leben führen und uns dem Guten zuwenden. Ein Gleichnis aus der hinduistischen Mahābhārata verdeutlicht diese Sicht. Der Held Yudhisthira verspricht, einem Bettler am nächsten Tag ein Almosen zu geben. Als sein jüngerer Bruder Bhima dies hört, läutet er die Siegesglocken des Palastes. »Warum läutest du die Glocken?«, fragt ihn Yudhisthira erstaunt. Und Bhima erwidert: »Um ein solches Versprechen geben zu können, musst du das Leben besiegt haben. Wie könntest du sonst wissen, was der morgige Tag bringt?« Dieser Gedanke steckt auch hinter einem Satz, den Ali, der vierte der rechtgeleiteten Kalifen des Islam, schrieb: »Jeder, der vom Tod geholt wird, bittet um mehr Zeit, aber jeder, der noch Zeit hat, sucht nach Entschuldigungen für seine Säumigkeit.« Wenn die Uhr plötzlich stehenbleibt, dann sind unsere Seelen verloren, wenn wir gute Taten, Meditationen und Abbitten aufgeschoben haben.
Der Heilige Krieg wird also nicht gegen die Kräfte des Bösen geführt, sondern gegen die Kräfte der Natur, genauer gesagt der menschlichen Natur. Sämtliche Religionen bekämpfen die Aufschieberei ihrer Anhänger, denn das Gelobte Land oder die versprochenen Belohnungen werden erst in ferner Zukunft gewährt. Das Seelenheil ist also in einem gewissen Nachteil gegenüber den sündigen Freuden, die sofort verfügbar sind. So sehr sich die Religionen ansonsten unterscheiden, in ihrer Warnung vor dem Aufschieben sind sie sich einig.
Ach, wenn nur …
Aufschieber sind tendenziell nicht nur ärmer und ungesünder als Soforterlediger, sie sind oft auch weniger glücklich. Ein Grund ist natürlich der Stress, den ihnen die Aufschieberei verursacht, und die damit einhergehenden Schuldgefühle. Das Leid, das sie beim Aufschieben durchmachen, ist oft größer als das Leid, das ihnen die Arbeit verursacht hätte. Wenn sie die Aufgabe schließlich angehen, sind sie oft erleichtert und müssen sich eingestehen, dass es gar nicht so schlimm war, wie sie dachten. Rita Emmett, Autorin des Buchs Was du heute kannst besorgen, meint sogar, es handele sich um ein Naturgesetz: »Die Angst vor der Erledigung einer Aufgabe kostet mehr Zeit und Kraft als die Erledigung selbst.«
In zahllosen Internetforen schildern Aufschieber, welches Leid ihnen ihre Trägheit verursacht. Ich habe ein halbes Dutzend Beispiele aus den Foren Procrastinators Anonymous und Procrastination Support zusammengestellt:
Ich bin in vieler Hinsicht ein erfolgreicher Mensch und habe in meinem Leben viel erreicht. Doch der Weg dorthin ist schrecklich: Ich schiebe auf, ich fühle mich schuldig, ich stürze in Depressionen, ich arbeite wie verrückt, ich gelobe Besserung und fange dann wieder mit dem Aufschieben an. Im Beruf habe ich inzwischen so viel aufgeschoben, dass sich die Arbeit bis unter die Decke türmt und ich nicht weiß, wie ich wieder aus diesem Loch herauskommen soll, das ich mir selbst geschaufelt habe.
Vor zwei Wochen hat das neue Schuljahr angefangen, und zuerst war alles prima. Ich habe meine Hausaufgaben rechtzeitig gemacht und hatte eine Menge Freizeit. Inzwischen bin ich wieder im alten Trott. Ich befürchte das Schlimmste, und in zwei Monaten gibt es Zwischenzeugnisse. Ich bin nicht so schlecht, wie meine Zeugnisse sagen, aber ich schaffe es einfach nicht, meine Arbeit zu
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