Der zehnte Richter
'ne Menge Fotos«, sagte Ober.
»Eigentlich nicht«, widersprach Ben. »Wenn wir die zwölf besten Fakultäten nehmen und uns auf die in Frage kommenden Jahre beschränken, macht das hundertachtzig Jahrbücher. Da wir mit durchschnittlich vierhundert Studenten pro Jahrgang rechnen können, ist das Ganze nicht so schlimm.« »Das sind zweiundsiebzigtausend Bilder.« Nathan schlug mit den Handgelenken gegen das Lenkrad.
»In Wirklichkeit ist es nur die gute Hälfte«, sagte Ben. »Um die Frauen brauchen wir uns ja nicht zu kümmern.«
»Was soll eigentlich der Quatsch mit wir ?« fragte Ober. »Du bist doch der einzige, der ihn erkennen kann.«
»Dann werde ich mir eben eine Menge Fotos anschauen. Oder habt ihr eine bessere Idee? Wenn ich sein Bild entdecke, haben wir alles, was wir brauchen.«
»Kannst du die alten Jahrbücher denn überhaupt alle bekommen?« fragte Nathan.
»Natürlich. Wenn ich bei einer Uni anrufe und sage, ein Richter am Obersten Gericht hätte gern ein paar Jahrbücher, sind die bis zum Wochenende da. Aus der Sicht einer juristischen Fakultät sind Bundesrichter Götter, die auf Erden wandeln.«
»Dann klingt das wirklich wie die bestmögliche Lösung.« Nathan beugte sich übers Lenkrad. »Und jetzt sag mir, was du von der Sache mit Lisa hältst.«
Ben starrte auf den Brief in seinen Händen. »Ich glaube nach wie vor nicht, daß du recht hast, aber momentan will ich kein Risiko eingehen. Ich vertraue ihr, aber ich kann damit leben, daß sie nichts von meinem Plan erfährt.«
»Das ist alles, worauf ich hinauswill«, sagte Nathan. »Je weniger Leute beteiligt sind, desto besser.« Am frühen Montagmorgen kam Ben in seinem blauen Lieblingsanzug, einem frisch gestärkten Hemd und seinem schwarzen Wollmantel zum Gerichtsgebäude. Obwohl er nicht so ausgeruht war, wie er gehofft hatte, war er erleichtert, die Feiertage überstanden zu haben. Sobald er jedoch eine Ecke des imposanten Marmorbaus erblickte, kehrte auch seine Nervosität zurück. Ben ging zu seinem Büro, hielt aber vor der Tür inne. Okay, sagte er zu sich selbst, geh die Sache einfach cool an. Es hat sich nichts geändert; ihr beide seid noch immer Freunde, aber von deinen Plänen bezüglich Rick darfst du ihr nichts erzählen. Besorgt, daß sein Gesicht seine Zwangslage verraten könnte, schloß er die Augen und stellte sich Lisa nackt vor. Gut, ich bin ganz ruhig, dachte er, als er die Tür öffnete. Ich bin ein wahrer Fels. Unerschütterlich. Er trat ein und war nicht überrascht, daß Lisa schon da war.
»Was soll das blöde Grinsen?« fragte Lisa, als Ben sich aufs Sofa setzte.
»Kann ich nicht schlicht und einfach froh sein, wieder an die Arbeit gehen zu können? Ist das so verwerflich?«
»Mir kannst du keinen Bären aufbinden«, sagte Lisa. »Den Blick hab' ich doch schon einmal gesehen. Du denkst noch an Thanksgiving, oder?«
»Lisa, obwohl du gerne glauben möchtest, daß du dich im Zentrum meines Universums befindest, muß ich dieser Ansicht leider widersprechen. Außerdem war das ein Blick voll friedfertiger Ruhe. Ein Blick, der sagt: Schön, wieder hier zu sein.« »Davon kann gar keine Rede sein. Dein Blick spricht höchstens von Verstopfung und zu vielen Pillen.«
»Verstopfung. Sex mit dir. Was soll's«, erwiderte Ben.
»Das war aber wirklich nett«, sagte Lisa. »Schlicht, aber wirksam.« Sie lehnte sich zurück. »Übrigens, seit wann bist du denn so gelassen bezüglich unserer kleinen Affäre? Ich dachte, du wolltest nicht darüber reden?«
»Ich bin im Grunde darüber weg«, stellte Ben fest. »Solange es sich nicht störend auswirkt, hab' ich damit keine Probleme.«
»Wenn du keine hast, hab' ich auch keine«, sagte Lisa. »Dann erzähl mir jetzt mal, was gerade läuft. Hast du dir schon überlegt, was du mit Rick machst?«
»Nein, eigentlich nicht.« Ben ging zu seinem Schreibtisch. »Ich hab' mehr über Grinnell nachgedacht als darüber.«
»Gut.« Lisa nahm einen Notizblock und folgte Ben zu seinem Tisch. »Weil ich mir sämtliche Perspektiven überlegt habe, aus denen man das Sondervotum angehen kann.« Sie legte den eng beschriebenen Block vor Ben. »Weil Veidt Osterman und Freunden nicht vollständig folgen wird, können wir ihre Entscheidung wohl wirklich auf die konkreten Fakten eingrenzen. Sie werden sagen, daß Grinnell einen unverhältnismäßig hohen Schaden erleidet; wir hingegen können feststellen, daß das nur auf seltene Fälle zutrifft, in denen es um bestimmte historische
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